Veröffentlicht: 14.07.2021. Rubrik: Grusel und Horror
Kekezza und Kerensa in der Artusburg
Die eineiigen Zwillingsschwestern Kekezza und Kerensa Müller verdankten ihre Vornamen dem Faible ihrer Eltern Carola und Peter für Cornwall und seine ausgestorbene und jetzt wiederbelebte keltische Sprache, das Kornische. Wobei „verdanken“ nicht der ganz richtige Ausdruck ist, denn dankbar waren die Mädels für die Namen keinesfalls. Dauernd mussten sie erklären, wie sie ausgesprochen wurden („Betonung auf der zweiten Silbe!“) und was sie bedeuteten (Kekezza = Heidekraut, Kerensa = Liebe).
„Mama, Papa, warum habt ihr uns keine normalen Namen gegeben? Wir wohnen schließlich nicht in Cornwall, sondern hier in Deutschland und heißen Müller!“
Die Eltern pflegten dann zu entgegnen: „Hättet ihr denn lieber Schantall und Schackeline heißen wollen? ‚Normale‘ Namen gibt es doch heute kaum noch. Eure sind doch wunderschön.“
Selbstverständlich verbrachte die vierköpfige Familie jeden Sommerurlaub in Cornwall. Die Zahl der Kornisch-Sprecher hält sich noch immer in Grenzen, sodass man sich in der Regel auf Englisch verständigen muss. Dies betrübte Carola und Peter, aber andererseits führte es dazu, dass Kekezza und Kerensa ihren Mitschülern in Deutschland im Fach Englisch weit voraus waren. Ein wenig Kornisch konnten sie ebenfalls, wenngleich sie die Begeisterung ihrer Eltern für die Sprache nicht teilten.
Eine der touristischen Hauptattraktionen Cornwalls ist Tintagel Castle (kornisch: Kastel Dintagel), die Burg, in welcher der mythische König Artus gezeugt worden sein soll. Heute ist Tintagel Castle nur noch eine Ruine.
im August 2019 wurde eine neue Fußgängerbrücke fertiggestellt, die die Halbinsel, auf der die Burgruine liegt, auf der Höhe des mittelalterlichen Zugangs mit dem Festland verbindet. Die vier Müllers kannten Tintagel Castle bereits, wollten aber auch die neue Brücke kennenlernen und gehörten zu den ersten, die sie benutzten. Carola und Peter hatten ihre Tischnachbarin im Hotel, die alte Mrs. Smith aus London, eingeladen, mit ihnen zu kommen. Diese war dafür sehr dankbar und revanchierte sich mit vielen Anekdoten über Tintagel.
Kekezza und Kerensa – inzwischen vierzehn Jahre alt – langweilten sich bald, zumal ihr Englisch noch nicht ganz ausreichte, um alle Einzelheiten der Anekdoten zu verstehen. „Was meinst du“, flüsterte Kekezza ihrer Zwillingsschwester zu, „sollen wir durch die Burg gehen, während Mama und Papa Mrs. Smith zuhören?“
Kerensa nickte begeistert, und unbemerkt von den Erwachsenen schlichen sie sich davon. Als sie außer Seh- und Hörweite der Eltern waren, sagte Kekezza: „Erinnerst du dich an den schmalen Durchgang, der uns bei unserem vorigen Besuch hier auffiel? Er schien nicht für Touristen gedacht zu sein…“
Bald hatten sie ihn wiedergefunden. Es handelte sich um einen Spalt zwischen zwei Felswänden. Er ähnelte einem Weg, aber man konnte nicht sehen, wohin er führte. „Wenn wir hintereinander gehen, passen wir rein“, entschied Kekezza, die – als die 15 Minuten Ältere – meist die Anführerin war. „Ich gehe vor, und du bleibst direkt hinter mir. Los! Wir haben ja unsere Handys dabei für den Fall, dass was nicht in Ordnung ist.“
Die Mädchen guckten sich noch einmal um, aber niemand beobachtete sie, und sie betraten den Weg. Schon nach wenigen Metern merkten sie, dass es immer dunkler wurde. „Lass uns lieber umkehren“, bat Kerensa, „es ist wohl gar kein Durchgang, sondern eine Art Sackgasse oder Höhle!“
Als Kekezza unbeirrt weiterging, rief sie: „Wenn du nicht willst, dann gehe ich eben allein zurück!“ Sie drehte sich um – und schrie im nächsten Augenblick: „Ich kann nicht!“
Eine unsichtbare Wand schien sich vor Kerensas Füßen aufgerichtet zu haben. Es drang auch kein Licht mehr von draußen hinein, obwohl der Eingang nur rund zehn Meter entfernt lag. Ohne Kekezza zu fragen, ergriff sie in Panik ihr Handy und wollte ihre Mutter anrufen. Doch das Telefon funktionierte nicht. „Versuch’s mal mit deinem!“, flehte sie Kekezza an. Auch dieser schien es inzwischen mulmig geworden zu sein, denn sie holte ohne Widerrede ihr eigenes Handy hervor. Einige Minuten später stand fest, dass auch ihres nicht ging.
Wenigstens leuchten konnten sie noch mit beiden Handys. Aber wie lange? „Was tun wir nur?“, überlegten sie verzweifelt. „Hierbleiben? Weitergehen? Offenbar gehört der Weg zu einer Geisterwelt, die wir nicht hätten betreten dürfen. Und die Herrscher dieser Geisterwelt rächen sich jetzt.“
Plötzlich sagte Kerensa: „Mir fällt gerade die Fee Morgana ein. Ob sie uns helfen könnte?“
„Die Fee Morgana? Ich weiß, sie gehört zur Artussage. Eine mächtige Zauberin. Aber nicht immer gut.“
„Immer böse aber auch nicht. Auf Kornisch heißt sie Morgen an Spyrys. Wenn wir sie auf Kornisch anrufen, hilft sie uns vielleicht, auch weil wir kornische Namen haben. Mama und Papa sind uns mit ihrem Kornisch ja oft auf die Nerven gefallen, aber wer weiß, wozu es gut ist.“
Nachdem sie sich geeinigt hatten, was sie sagen wollten, und versucht hatten, dies ins Kornische zu übersetzen, riefen sie die Fee Morgana an. In der keltischen Sprache baten sie: „Morgen an Spyrys, hier sind Kekezza und Kerensa. Bitte hilf uns, dass wir wieder heraus zu unseren Eltern kommen!“
Einige Minuten lang geschah nichts. Dann erspähten sie dort, wo der Eingang lag, ein schwaches Licht, das stärker und stärker wurde. Es war das Tageslicht. Als der Weg zwischen den Felswänden genügend erhellt worden war, versuchte Kerensa erneut, zum Eingang zu gehen – und diesmal hielt keine unsichtbare Wand ihre Füße mehr auf.
Weinend vor Erleichterung traten die Zwillingsschwestern ins Freie und wollten sofort zu ihren Eltern und Mrs. Smith zurücklaufen. Doch was war das? Alle Menschen, denen sie begegneten, hatten sich merkwürdige Tücher vors Gesicht gebunden. Ein Mann fuhr sie auf Englisch an: „Hier ist Maskenpflicht!“
Die beiden begriffen nichts. „Wie bitte?“, fragte Kekezza. „Was für Masken? Wir sind aus Germany…“
Inzwischen hatten sich weitere Tuchträger angesammelt und schimpften. „Diese Europäer! Nur gut, dass wir aus der EU raus sind!“
Nun zweifelten die Mädchen völlig an ihrem Verstand. „Aus der EU raus?“
„Ihr habt wirklich von nichts eine Ahnung! Schon seit dem 31. Januar 2020.“
„Aber heute ist doch erst…“ Entsetzt starrten die Schwestern sich an. Dann fragte Kerensa mit bebender Stimme: „Welches Datum ist denn heute?“
Jemand hielt ihnen eine Tageszeitung unter die Nase. Sie zeigte das Datum 14.07.2021.
Auf Deutsch flüsterte Kekezza fassungslos ihrer Schwester zu: „Wir müssen fast zwei Jahre lang in der Geisterwelt gewesen sein.“
Einer der Umstehenden merkte, dass die Mädchen Hilfe benötigten, und rief einen Rettungswagen und die Polizei.
*
Carola und Peter Müller hatten nichts unversucht gelassen, ihre Töchter wiederzufinden. Erst nach Monaten waren sie notgedrungen nach Deutschland zurückgekehrt, betrieben die Suche aber von dort aus weiter. Als dann am Abend des 14.07.2021 das Telefon schellte, hatte Carola gleich ein gutes Gefühl.
Tatsächlich meldete sich eine Polizistin aus Cornwall. „Good news! Ihre beiden Töchter sind wieder da. Körperlich unversehrt und in guter Verfassung, allerdings sehen sie merkwürdigerweise noch immer wie Vierzehnjährige aus. Sie wurden in die Psychiatrie eingeliefert, weil sie behaupteten, sie seien im Geisterreich gewesen –“
„Bitte entlassen Sie sie aus der Psychiatrie! Mein Mann und ich kommen, so schnell es unter den Corona-Bedingungen geht, und holen sie ab. Das mit dem Geisterreich stimmt. Ich habe gewusst, dass Sie anrufen würden, denn diese Nacht hat mir im Traum die Fee Morgana alles erzählt.“