Veröffentlicht: 31.12.2020. Rubrik: Unsortiert
Jedes Jahr - zeitlos
Wie jedes Jahr am Silvestermorgen ging Sylvia zum See hinunter. Das hatte sie schon als kleines Mädchen gemacht. Manchmal war ihr Opa mitgekommen, und sie hatten jedesmal ihre Oma getroffen. Zuhause redeten sie nicht mehr darüber. Aber ihr Opa war immer gutgelaunt gewesen danach.
Dieses Jahr war es ziemlich kalt, und es lag Schnee. Zugefroren war der See trotzdem nicht. Ein paar Enten schwammen in einiger Entfernung, ihr Schnattern war laut zu hören. Sylvia beobachtete sie lächelnd.
„Hallo, mein lieber Schatz", sagte eine Stimme hinter ihr. Erfreut drehte sie sich um.
„Achim! Schön, dass du kommen konntest."
„Ich komme doch jedes Jahr", sagte er weich, und Sylvia nickte.
„Was machen die Kinder?" fragte er.
„Tobias macht nächstes Jahr Abitur. Und Tamara fängt eine Ausbildung als Bankkauffrau an."
„Und dir geht es auch gut? Bist du glücklich? Mit... ihm?"
„Ja." Versonnen schaute sie ihn an. „Vielleicht nicht so wie mit dir. Aber doch... Ich bin glücklich."
„Das freut mich für dich."
Nach diesen Worten schwiegen sie. Sylvia hätte sich gerne an ihn gelehnt, doch sie wusste, dass dies nicht möglich war. Sie erzählte ihm stattdessen, wie sie Silvester feiern würden: mit Tom und Silke, Ulrike und Bernd. An Bernd konnte Achim sich erinnern. „Das war doch dein Arbeitskollege?"
„Ja, durch mich hat er Ulrike kennengelernt."
Sie schwatzte weiter; nicht, weil sie glaubte, dass es ihn interessiere, aber sie wusste, dass er gehen würde, sobald sie aufhörte zu reden. So war es immer, jedes Jahr.
Als eine der Enten auf einmal laut mit den Flügeln schlug und das Schnattern durch einen wütenden Unterton verstärkt zu ihnen herüber klang - offensichtlich war sie mit einer anderen Ente in Streit geraten - sah Sylvia zu ihr hin. Im selben Moment wusste sie, dass dies ein Fehler gewesen war. Achim hatte den Moment genutzt und war verschwunden.
Eine halbe Stunde später war sie zu Hause. Oliver war bereits in der Küche mit den Vorbereitungen beschäftigt. „Du bist ein Schatz", sagte Sylvia und küsste ihren Mann. „Ich helfe dir gleich, ich ziehe mich nur gerade um."
Flink lief sie ins Schlafzimmer. Als sie die Kommode aufzog, um Strümpfe herauszunehmen, fiel ihr Blick auf Achims Bild, das sie in der Schublade verwahrte. Sie drehte es um und las zum wohl hundertsten Mal die Zeitungsanzeige, die auf der Rückseite festgesteckt war:
„Achim Lauer
geboren 01.02.1965
gestorben 30.11.2011.
Du wirst für immer bei uns sein."
Lächelnd küsste sie das Bild.