Veröffentlicht: 11.12.2020. Rubrik: Satirisches
Ein Tag im Jahre 2060
„Kaum zu glauben", sagte Justus, während er wieder und wieder auf den Auslöser seiner Digitalkamera klickte. „Dass es das wirklich mal gegeben hat... "
Simon, der Zeiger der Gruppe, nickte. „Ja, damals gab es Museen und Theater in Hülle und Fülle, und das Leben florierte. Es gab auch jede Menge Künstler und Studenten. Tagsüber traf man sich in Cafés und abends in der Kneipe..."
„Entschuldigung", ließ sich ein zaghaftes Stimmchen aus der letzten Reihe der Besichtiger vernehmen. „Was sind Cafés und Kneipen?"
„Ach ja, Verzeihung. Einige von Ihnen sind zu jung, um das wissen zu können." Simon lächelte entschuldigend in Richtung des zaghaften Stimmchens. „Vor über vierzig Jahren sah es hier anders aus. Das war vor dem neuen Puritanismus. Cafés und Kneipen waren Orte, in denen sich Menschen trafen, um etwas zu trinken... "
„Etwa Alkohol?" ließ sich eine spitze weibliche Stimme aus der Reihe der Touristen vernehmen. Simon nickte.
„Richtig, damals war das gang und gäbe."
„Unerhört", murmelte die gleiche Stimme wieder. „Gut, dass das abgeschafft wurde!"
„Ganz richtig, gnädige Frau." Simon wandte sich wieder den anderen Besichtigern zu. Mit seinem Freund Justus, der aus für Simon unerfindlichen Gründen diese Geisterstadt mit den schon lange verlassenen und heruntergekommenen Häusern fotografierte, waren es insgesamt zehn. Nur zehn, aber immerhin aus sieben verschiedenen Haushalten. Es hatte lange genug gedauert, bis die Besichtiger aus mehr als zwei Haushalten kommen durften. Jetzt war es endlich soweit. Er musterte die Besichtiger, die seit der Verordnung von 2040 nicht mehr „Touristen" genannt werden durften. Da es nichts mehr gab, womit man Touristen früher unterhalten hatte, konnte es natürlich auch keine Touristen mehr geben. Man nannte sie jetzt „Besichtiger". Simon hatte für sich selbst die Berufsbezeichnung „Zeiger" entdeckt. Das klang sowieso viel schöner als „Fremdenführer".
„Wann können wir endlich einkaufen?" quengelte jemand. Es war ein junges Mädchen, vielleicht zwölf Jahre alt. „Ich brauche neue Masken! Leonie aus meiner Klasse hat eine ganz tolle mit der neuen Barbie drauf..."
„Das ist nicht wichtig", wies ihre Mutter sie zurecht. „Leonie kannst du im Moment sowieso nicht sehen, es ist ja keine Schule."
„Keine Schule?" wiederholte Simon erstaunt.
Justus stellte sich neben ihn. „Ja. Nach 40 Jahren kam man endlich darauf."
„Aha", sagte Simon. „Ich wollte dich etwas fragen. Warum fotografierst du eigentlich den langweiligen Kram hier?"
„Ich mache eine Reportage darüber, wie die Innenstädte verödet sind."
Simon sah ihn zweifelnd an, und dann erhob sich auch schon das zaghafte Stimmchen von vorhin.
„Was sind Innenstädte?"