Veröffentlicht: 21.10.2020. Rubrik: Unsortiert
Bei den Antiquitäten
Es war Mittagszeit und auf dem Flohmarkt demzufolge nicht viel los. Besucher wie Aussteller zog es an die Würstchenbude. Nur der Mann am Antiquitätenstand blieb beharrlich auf seinem Platz; er blickte erhobenen Hauptes geradeaus und schien auf Kundschaft zu warten. Willi trat näher und betrachtete seine Auslage. Eine alte Ausgabe der "Buddenbrooks" von Thomas Mann. Ein angeschlagenes Schaukelpferd.
Mehrere Porzellantassen, manche mit Sprung, manche ohne. Ein kleiner Beistelltisch, rund, aus weißem Mahagoniholz, gut erhalten, der etwas her machte. Er las den Preis und schnappte nach Luft.
„Ist er Ihnen zu teuer?" fragte der Händler freundlich.
„Ein wenig."
Der Verkäufer wies einladend auf die anderen Sachen. „Schauen Sie sich nur um, ich habe in jeder Preislage etwas."
Willis Blick fiel auf ein gerahmtes Bild. Es stellte eine Landschaft dar, eine Wiese, weiße Wolken im blauen Himmel. Mitten im Bild prangte ein Baum mit abgebrochenen Ästen. Er sah aus wie hingekleckst, aber Willi gefiel genau das.
„Von wem ist das Bild?"
„Steht kein Name drauf?"
Wili beugte sich vor und suchte nach einer Signatur, fand aber keine.
„Sie können es für 25 Euro haben", bot der Händler an. Willi schüttelte den Kopf. „Das ist mir für ein Bild ohne Signatur zu teuer."
„20."
„10."
„15. Weiter runter gehe ich nicht."
„Und ich nicht weiter rauf." Willi setzte ein entschlossenes Gesicht auf.
„Wie Sie wollen."
Andere potentielle Kunden waren herangekommen.
„Das gefällt mir", sagte eine Frau mit schwarzen Haaren und im hellbeigen Mantel zum Verkäufer. „Passt zu meinen anderen Bildern. Ich kaufe es."
„25 Euro, die Dame."
„Moment. Ich wollte das Bild gerade kaufen. Für 15 Euro." Willi trat einen Schritt vor.
„Ihnen war es zu teuer, obwohl ich Ihnen ein Extra-Angebot gemacht habe. Weil Sie mir sympathisch waren. Sie wollten nicht. Jetzt ist es zum Normalpreis zu haben." Der Händler wandte sich an die Schwarzhaarige. „Macht 25 Euro, die Dame."
Die Frau nickte und begann, in der Handtasche nach dem Portemonnaie zu kramen.
„Ich bezahle auch 25 Euro", sagte Willi hastig. Die Frau warf ihm einen bösen Blick zu.
„30", sagte sie zum Verkäufer, der ihr ein strahlendes Lächeln schenkte.
„Selbstverständlich, die Dame", er griff nach dem Bild. Willi juckte es in den Fingern, es ihm aus den Händen zu reißen.
„40", rutschte es ihm heraus.
„50." Die Frau schien genau so entschlossen zu sein wie er. Ein paar Schaulustige hatten sich eingefunden und verfolgten den Disput interessiert. Willi räusperte sich. „60. Aber das ist mein letztes Angebot."
Die Frau im beigen Mantel sah ihn verärgert an. „So viel habe ich nicht dabei. Da muss ich passen."
Willi atmete auf. „Packen Sie mir das Bild ein", verlangte er.
„Aber gerne". Der Verkäufer schlug Papier um das begehrte Objekt. „60 Euro, der Herr."
Willi nahm mit großspurerischer Geste seine Brieftasche aus der Jacke und blätterte drei 20-Euro-Scheine hin. Der Händler nahm sie und bedankte sich. „Ich wünsche Ihnen viel Freude mit dem Bild!"
„Danke." Mit sich und der Welt äußerst zufrieden und dem Bild unter dem Arm verließ Willi den Flohmarkt.
„Das ging ja fix", sagte der Verkäufer zu seiner Frau, als Willi außer Reichweite war. „Das hast du gut gemacht." Er fuhr ihr über das Haar. „Heute Mittag solltest du die blonde Perücke aufziehen, Schatz. Und den schwarzen Mantel."