Veröffentlicht: 08.10.2020. Rubrik: Lustiges
Mutter schreibt die Hausarbeit des Kindes
Ich muss ungefähr zwölf Jahre alt gewesen sein. Unsere Deutschlehrerin am Mädchengymnasium, Frau Pohl (Name geändert), hatte mit uns Gottfried Kellers Novelle „Kleider machen Leute“ durchgenommen. (Dass wir auch diejenigen Lehrerinnen, die – wie Frau Pohl – unverheiratet waren, Frau nennen sollten, war ein erster Vorbote der Moderne, denn überall sonst sagte man noch Fräulein.)
Eines Freitags trug Frau Pohl uns als Hausaufgabe auf, bis zur nächsten Deutschstunde am Dienstag eine dreiseitige Zusammenfassung der Novelle zu schreiben.
Am Montag-Abend begann ich mit der Arbeit. Als meine Mutter dies erfuhr, war sie empört über meine Saumseligkeit und schimpfte: „Du gehst jetzt ins Bett und lässt dir morgen einen Tadel von Fräulein Pohl geben!“
Mein Vater meinte vermittelnd: „Nein, wir wollen keinen Tadel haben. Christine, setz dich an die Arbeit und fang in Zukunft früher an!“
Als er dann sah, dass ich es in der kurzen Zeit nicht mehr schaffen würde, fiel ihm ein, dass meine Mutter recht gut formulieren konnte und schon öfter für Familie und Freunde Reiseberichte verfasst hatte. Fragend blickte er sie an: „Könntest du vielleicht…?“
Meine Mutter musste erst einmal die ihr völlig unbekannte Novelle lesen. Dann fing sie an. Für den ersten von insgesamt drei Teilen brauchte sie zwei der drei Seiten. Den zweiten quetschte sie zu einer knappen Seite zusammen, und für den dritten blieb nur eine einzige Zeile übrig. Aber es war geschafft.
Als ich am nächsten Tag aus der Schule zurückkam, sagte ich: „Mama, ich war dir ein guter Kamerad!“
Meine Mutter war überrascht: „Ja, das ist ja schön – aber wieso?“
„Frau Pohl hat meine Arbeit mit nach vorn genommen, einiges daraus vorgelesen und dann gesagt: ‚Christine, das ist das Schlechteste, was du je geschrieben hast. Das steht weit unter deinen sonstigen Leistungen!‘ Und da habe ich nicht gesagt, dass du es warst.“
Wenn ich heute schmunzelnd daran zurückdenke, muss ich ehrlicherweise sagen, dass ich nicht nur aus Kameradschaft, sondern auch aus Selbstschutz schwieg. Die Lehrerin sollte schließlich nicht wissen, dass ich so sehr getrödelt hatte!
Zum Glück handelte es sich ja auch nur um eine relativ unwichtige Hausarbeit, die nicht benotet wurde.
Später hat meine Mutter es ihr übrigens erzählt. Frau Pohl – der sie bereits einige ihrer obenerwähnten Reiseberichte geschenkt hatte – war daraufhin ganz entsetzt, weil sie fürchtete, sie hätte meine Mutter beleidigt!
Aber schuld an allem war natürlich meine Trödelei, die ich mir seitdem abzugewöhnen versucht habe. Mea culpa!