Veröffentlicht: 11.09.2020. Rubrik: Menschliches
Liegengeblieben
Als der Wagen unter der rhythmischen Begleitung von ungesund klingenden Klopf- und Knirschgeräuschen zu ruckeln begann, war Karin nicht mal überrascht. In letzter Zeit war nur selten etwas glatt gelaufen und warum hätte es jetzt anders sein sollen? Langsam rollte sie am Straßenrand aus und schloss kurz die Augen, bevor sie den Gurt löste und ausstieg.
Man musste wirklich kein Mechaniker sein, um zu erkennen: Ein Reifen war platt.
Und, man musste wirklich kein Geographielehrer sein, um zu erkennen: Die Gegend war der Arsch der Heide. Sie hatte das Handy bereits in der Hand, als ihr klar wurde, wie sinnlos das war. Empfang? Hier bestimmt nicht. Und selbst wenn, wen hätte sie anrufen sollen? Ihn? Auf gar keinen Fall, es war endgültig vorbei. Karin kämpfte gerade die aufkommende Traurigkeit nieder, als ein Auto um die Kurve bog. Der nicht mehr ganz neuwertiger Kombi kam ächzend hinter ihrem Wagen zum stehen und ein Mann in ihrem Alter stieg aus.
„Brauchen sie Hilfe?“, fragte er freundlich.
„Nein, ich stehe einfach gerne dumm in der Gegend herum“, antwortete sie patzig.
„Ja, wer auch nicht? Dann noch viel Spaß dabei.“ Er lachte leise und wand sich wieder seinem Wagen zu.
„Wenn ich es mir genau überlege, wäre etwas Hilfe vielleicht doch ganz gut“, stoppte Karin ihn und hob beschwichtigend die Hände.
„Wo liegt denn das Problem?“
„Tja, wo soll ich anfangen? Ich würde sagen, in diesem Fall wohl vorne links.“ Sie deutete auf den Reifen.
„Plötzlich ist die Luft raus und man kommt einfach nicht mehr voran, was?“
„Ja, und ehe man sich versieht dreht sich nichts mehr.“
„Das passiert schon mal, aber einfach auf der Stelle zu stehen bringt einen dann auch nicht weiter.“ Er nickte zu ihrem Kofferraum. Karin öffnete den Deckel und schob ihre hastig gepackte Tasche zur Seite, bevor sie gemeinsam das Reserverad heraushoben und an den Wagen lehnten.
„Sie reisen mit leichtem Gepäck, wie ich sehe“, bemerkte er.
„Vieles, was man so hat, belastet einen ja nur“, zuckte Karin die Schultern.
„Das ist allerdings wahr, meist schleppt man einfach zu viel mit sich herum. Wohin wollen sie denn eigentlich?“
„Um ehrlich zu sein...einfach weg“, seufzte sie.
„Und? Ist es bis dort noch weit?“ Er sah sie an und schmunzelte.
„Das weiß ich ehrlich gesagt nicht. Ich hatte in der Eile keine Zeit mehr, auf die Karte zu schauen.“ Karin zuckte mit den Schultern.
„Das kenne ich. Oft zögert man einfach viel zu lange und dann muss man plötzlich völlig überhastet aufbrechen“, kurz blickte er etwas gedankenverloren zur Seite.
„Vielleicht sollte ich einfach wieder umkehren.“ Nachdenklich sah sie zu, wie er den Wagenheber ansetzte.
„Das kann ich ihnen natürlich nicht sagen, aber ich denke, manchmal geht es nur in eine Richtung weiter, sonst verfährt man sich erst recht.“ Er kurbelte und langsam hob sich der Reifen knirschend vom staubigem Asphalt. Die tiefstehende Sonne schickte etwas Licht durch den entstehenden Spalt.
„Sie meinen, wenn man sich erst einmal auf den Weg gemacht hat muss man in der Spur bleiben, um den nötigen Abstand zu gewinnen?“, fragte sie und er überlegte einen Moment bevor er antwortete.
„Ich glaube schon. In Bewegung bleiben, wissen sie?“ Er drehte nachdenklich das Rad und rückte dann zur Seite.
„Und irgendwann kommt man schon irgendwo an?“ Karin ging in die Hocke und hob das Radkreuz. Ein Knarzen ertönte, aber die störrische Radmutter bewegte sich keinen Millimeter.
„Na ja, ganz so einfach ist es wohl nicht. Gelegentlich hakt auch mal etwas, aber davon darf man sich nicht entmutigen lassen.“
Karin spannte die Muskeln und ächzte. Endlich gab die Mutter nach und löste sich mit einem Knacken.
Schweigend tauschten sie wenig später gemeinsam das Rad und verstauten alles wieder im Kofferraum. Bevor sie den Deckel zufallen ließ, blickte Karin noch einen Moment nachdenklich auf den alten Reifen.
„Manchmal ist etwas so kaputt, dass man sich davon trennen muss“, sagte sie traurig.
„Ja, solange sich nichts mehr dreht, kommt man auch nirgendwo an“, nickte er.
„Apropos ankommen, wann erreiche ich hier eigentlich den nächsten Ort?“, zeigte sie die Straße herunter.
„Es sind nur noch ein paar Kilometer, keine Sorge. Da gibt es auch eine Tankstelle. Ich könnte jetzt ganz gut einen Kaffee brauchen, sie auch? Wenn sie mögen, fahren sie mir einfach hinterher.“ Er lächelte sie aufmunternd an und ging zu seinem Wagen.
Sie sah ihm noch einen Moment lang nach und stieg dann auch in ihr Auto. Während sie seinem Kombi folgte, überlegte sie, ob dieses -einfach weg- vielleicht doch schon näher war, als sie gedacht hatte.