Veröffentlicht: 14.06.2020. Rubrik: Unsortiert
Nicole ist allein
„Guck mal, Nicole, das Haus sieht doch sehr freundlich aus. Und die Frau Krause freut sich auf
dich.“ „Hallo Nicole, herzlich willkommen in deinem neuen zu Hause.“ Nicole sagte nichts. Innerlich war sie voller Hass. Hass auf ihre Eltern, die es nicht mal fertig brachten, sie selbst ins Heim zu bringen. Ihr Opa hat sie hergebracht. Hass auf diese Frau Krause, denn sie lügt. Nicole ist so was von nicht willkommen. Abgeschoben wird sie. In dieses Internat. Sie ist zu anstrengend. Finden ihre Eltern. So viele Abende hat sie die Streits mit angehört, wer sich um sie kümmern soll. Sie beide fanden reichlich Argumente oder persönliche Angriffe, warum Nicole zum jeweils anderen sollte. Jetzt stand sie vor dem Ergebnis. Ihre Eltern sind unentschieden auseinander gegangen. Am meisten hasste Nicole sich. Unaussprechlich war nach ihrer Auffassung, wie sehr sie versagt hatte. An alle Regeln gehalten, Hausaufgaben von sich aus gemacht, Pflichten erfüllt, der Mutter Aufgaben abgenommen, wo sie nur konnte. Doch der Wein hat gewonnen. Sie steht jetzt vor dem Internat. Gerne Kleider angezogenen, so oft sie konnte lieb gelächelt, dass der Vater sich freut. Doch das Ausland hat gewonnen. Sie steht jetzt vor dem Internat.
All diese Gedanken gingen ihr doch den Kopf, so dass es ihr vorkam als wollten die Worte: „herzlich willkommen“ sie verhöhnen. Erwidern konnte sie nichts. Ihre Stimmbänder funktionierten einfach nicht mehr. Als wäre was dazwischen gefallen.
In den folgenden zwei Jahren änderte sich nicht viel. Jeden Vormittag in der Woche besuchte sie den Unterricht, jeden Nachmittag ging sie zum Ausdauerlauf oder Schwimmen. Jeden Abend und jeden Samstag saß sie bis spät in der Bibliothek und las oder schrieb. Jeden Sonntag saß sie am Fenster und wartete. Schaute auf die Hinterköpfe und Schultern der Erwachsenen vor dem Haus. Erwachte kurz, wenn eine Frau die Frisur der Mutter trug. Stellte sich auf, wenn sie einen Mann sah mit einem ähnlichen Hemd wie das Lieblingshemd ihres Vaters. Die Erwachsenen gingen wieder. Nicole blieb am Fenster sitzen und weinte – ohne Stimme, ohne Tränen. Solange sie funktionieren konnte wie ein Schweizer Uhrwerk, spürte sie den Schmerz nicht. In gewisser Hinsicht war sie dann ja nicht menschlich, also auch ohne Gefühle. Nur Sonntags ging das nicht. Das Funktionieren. Sonntags wurde sie zu einem Mädchen mit Gefühlen und Gedanken. Endete der Sonntag, war sie auf einmal nicht mehr allein im Bibliotheksturm. Mike, Robert oder Annika aus der Theatergruppe war dann ebenfalls da und wartete – Nicole genau und stumm beobachtend – bis sie vom Fenster weg ging und den Turm hinunter ging. Am Anfang ging sie widerwillig und weil sie allein sein wollte auf ihr Zimmer. Später erwartete sie das Eintreten und fühlte so was wie Dankbarbkeit.
Eines Tages schrieb die Leiterin des Internats einen Wettbewerb für ein Schulprojekt in Nicoles Jahrgang, den Abiturklassen, aus. Bedingung war, dass aktuelle Themen aus drei bis vier verschiedene Unterrichtsfächern in einem Theaterstück verarbeitet und vorgestellt werden sollten. Nicole gefiel das Projekt. Sie war soweit, dass sie ein wenig auf die anderen zugehen wollte und gestaltete ein Plakat, das sie der Leiterin vorstellte. Am liebsten hätte sie ihr zu dem Bild und dem Text ein wenig erzählt, aber es kam kein Ton über ihre Lippen. Nicht nur ihre Stimmbänder waren defekt, sie hatte auch verlernt zu sprechen. Sie hörte die Leiterin nur sagen: „Schon gut. Ich kann es mir ja ansehen.“ und sie sah, wie die Leiterin lächelte und nickte. Ein Stein fiel Nicole vom Herzen und sie lächelte. Dabei sah sie die Frau fragend an. Sie meinte: „Kannst du mir davon 10 Stk ausdrucken? Wir hängen sie dann auf. Nicole nickte strahlend und eilte davon.
Wieder in der Bibliothek las sie gerade die Abenteuergeschichten von Tom Saywer. In einer Geschichte schippert er mit einem entlaufenen Sklaven – Onkel Sam – den Mississippi entlang und kommt an verschiedenen Personen vorbei. Das gefällt ihr so gut, dass sie sich daran versucht ein Drehbuch für das Theaterstück zu schreiben. Der Fluss wird der Amazonas und drei Jugendliche wandern mit ihrem Floß eine Woche lang darauf entlang. Einen Tag treffen sie Alexander von Humboldt und helfen beim Pflanzen bestimmen, einen Tag ein Dorf für ein separates Buschvolk (dem sie einen Tag lang helfen das lesen zu erlernen), einen Tag einen Tempel der Inka und Maya, einen Tag beobachten sie Tiere, einen anderen Tag lernen sie portugiesisch in einer Missionarsschule, am vorletzten Tag haben sie sich in den Flussarmen verfahren und müssen mithilfe der Sterne und ihren Bewegungen berechnen, auf welchen Flussarm sie zurück müssen, am letzten Tag fahren sie zur Basis Hütte zurück, wo sie mit leckeren Eintopf erwartet werden. Nicole vertieft sich immer mehr in dieses Projekt. Wird Feuer und Flamme. So vergisst sie sogar an manchem Sonntag, sich an die Fensterscheibe zu setzen. Aber von einem aus der Theatergruppe wird sie immernoch „abgeholt“. Immer freundlicher bis strahlender lächelt sie ihn oder sie dann an und geht bald beschwingt auf ihr Zimmer. Sie schafft es ein paar Tage vor Abgabetermin ihr Drehbuch einzureichen. Dann wartet sie mal voller Zuversicht, mal voller Selbstzweifel auf die Bekanntgabe des Gewinners. Endlich ist der Tag gekommen. Alle Schüler versammeln sich in der Aula, die Leiterin steht auf der Bühne, erhält den Umschlag von der Deutschlehrerin. Nicole stockt der Atem. Ihr wird schlecht. Ihr wird schwindelig. Aber sie bleibt stehen. Die Leiterin liest vor: „Gewonnen hat das Stück: „Reise durch die Zeit, auf dem Amazonas“ geschrieben von Nicole Schulze.“ Nicole spürt, wie sie von oben bis unten, am ganzen Körper rot wird. In ihren Ohren sprach die Leiterin ihren Namen verblüfft bis resigniert aus. Die Schüler wollten gerade lautstark applaudieren, ließen dann aber die Hände sinken. Auch die Leiterin wusste nicht genau, was sie jetzt machen sollte. Nicole aber nahm all ihren Mut zusammen und ging auf die Bühne. Aus ihrem Mund kam ein krächzendes „Danke!“ Dabei schaute sie nur die Deutschlehrerin an, die auch die Theatergruppe führte. Annika, Mike und Robert sowie die Lehrer applaudierten so laut sie konnten und einige pfiffen und riefen dazu Bravo-Rufe.
Zum Einstudieren des Stückes trafen sich die vier nun regelmäßig. Nicole fand einen Platz, wo sie anfing sich wohlzufühlen und zwischen ihr und Annika entwickelte sich eine tiefe Freundschaft.