Veröffentlicht: 14.06.2020. Rubrik: Menschliches
Die Pianistin
Vanessa läuft hinter dem Bühneneingang des Leipziger Gewandhauses auf und ab. Sie versteht die Welt nicht mehr. Das ist ihr gefühlt 300es Klavierkonzert. Diesmal auch mit Orchester. Das Parkett und die Ränge sind nur spärlich besetzt. Woher kommt dieses Lampenfieber?!? Die ganze Zeit über massiert ihre linke Hand die rechte. Ihr Herz schlägt bis zum Hals. Das Atmen fällt ihr schwer. Sonst ist sie immer so cool. Sie ist ein Kopfmensch. Sie schlägt Tasten an, die bewegen eine Saite, daraus entsteht ein Ton. Viele Töne beschreiben – in ihrem Kopf – meistens eine Landschaft. Letztendlich ist alles logisch erklärbar, findet Vanessa. Es macht sie ganz wütend, dass sie sich nicht erklären kann, warum sie sich jetzt auf einmal so nervös, ja, unsicher fühlt. Diese Grüblerei macht es nicht besser. Es ist Zeit rauszugehen. Mit einem Zeichen wies die Tonassistentin sie an, auf die Bühne zu treten. Sie öffnet einen Spalt den Durchgang – und kann nicht weiter gehen. Sie geht da nicht raus. Heute will sie nicht spielen. Und wenn sie nicht will, dann spielt sie auch nicht. Es ist ihr egal, was die Zuhörer dazu sagen. Sind ja eh kaum welche da. Nein! Sie geht da nicht raus. Die Assistentin weist sie noch mal an, rauszugehen. Sie schüttelt den Kopf, verschränkt die Arme vor der Brust und schaut Richtung Parkett. Da sieht sie auf einmal ihren Mann mit der gemeinsamen kleinen Tochter auf dem Arm reinkommen. Er wollte doch mit der Kleinen zuhause bleiben? Dann kommt ihre Mutter herein, geht in die gleiche Reihe und setzt sich neben ihr Enkelkind. Hatte sie nicht abgesagt, weil sie selbst eine Lesung hatte? - Als letztes kommt auch noch ihr Vater rein, geht in dieselbe Reihe und setzt sich. Hatte er nicht abgesagt, weil er gar nicht in der Stadt sein konnte? Vanessa blickt zur Assistentin, blickt zur Familie, atmet ganz tief ein und aus und betritt die Bühne. Selbstverständlich begrüßt sie ihre Zuhörer mit einer Verbeugung, winkt dem Orchester zu und setzt sich ans Klavier. Klar, eindeutig und mit den Bewegungen eines Flusses sieht sie ihre Bilder im Kopf und beginnt sie mit den klassischen Werken von Mozart und Vivaldi zu vertonen. Nach dem Konzert regnet es rote Rosen für sie als wäre der komplette Saal gefüllt.