Veröffentlicht: 02.05.2020. Rubrik: Menschliches
Sven und Janina
Sven war von frühester Kindheit an blind. Dennoch war er mit seinem Leben zufrieden. Und nachdem er Janina geheiratet hatte, war er sogar fast glücklich. Er liebte Janinas Wesen, ihre Stimme, ihre Haut… einfach alles an ihr. Wie gern hätte er sie auch gesehen!
Ein Jahr nach der Hochzeit trat Sven eine vierwöchige Kur an einem weit entfernten Ort an. Er und Janina hatten verabredet, dass sie ihn zwar jeden Nachmittag anrufen würde, aber nicht zu Besuch käme. „Umso mehr freue ich mich darauf, dich in einem Monat wieder abzuholen“, sagte Janina.
Sven war seit zehn Tagen in der Kur, als er eines Nachmittags am Telefon zu seiner Frau sagte: „Ich fahre für ein paar Tage mit einer Gruppe weg und bin dann nicht erreichbar. Am besten rufe ich diesmal dich an, wenn ich wieder da bin.“ Janina wusste bereits, dass die Kurklinik solche Fahrten organisierte, und wünschte ihm viel Spaß.
Als Sven sich schließlich wieder meldete, tat er sehr geheimnisvoll. „Ich freue mich darauf, wenn du mich abholst! Ich habe eine ganz große Überraschung für dich!“
Auch an den folgenden Nachmittagen – jetzt rief wieder Janina an – stellte er seiner Frau die große Überraschung in Aussicht, ohne auch nur anzudeuten, worum es sich handelte.
Als Janina am letzten Nachmittag vor Svens Rückkehr noch einmal mit ihm telefoniert hatte, schellte etwa zwei Stunden später ihr Handy. Es meldete sich die Leiterin der Kurklinik. Janina erschrak: „Ist etwas mit meinem Mann?“
„Nein, nein, ihm geht’s bestens. Nur… ich wollte es Ihnen lieber schon jetzt sagen. Das mit der Gruppenfahrt stimmte nicht. In Wirklichkeit hat Ihr Mann sich einer Augenoperation unterzogen. Er kann wieder sehen!“
Janina schrie auf. Dann weinte sie hemmungslos.
Die arme Frau, dachte die Klinikleiterin, wahrscheinlich wollte sie immer nur einen Blinden heiraten. Sie erinnerte sich an Janinas Gesicht, das von einem flammendroten Feuermal überzogen war.
„Ich kann mir denken, was Sie bedrückt. Deshalb bin ich soeben mit Ihrem Mann in den Klinikgarten zu den Tulpen gegangen. Die meisten sind ganz normale, einfarbige. Aber bei einigen handelt es sich um eine besondere Züchtung. Sie sind weiß mit roten Flecken. ‚Welche Tulpen finden Sie am schönsten?‘, fragte ich ihn. ‚Die da!‘, sagte er und zeigte auf die rotgefleckten.“
Als Janina tags darauf mit ihrem Auto in die Klinikeinfahrt einbog, standen Sven und die Leiterin schon vor dem Haus. Sie hörte die Dame zu ihm sagen: „Da kommt Ihre Frau. Sie ist so schön wie eine dieser seltenen Tulpen.“
Dann zog die Leiterin sich diskret zurück und sah nur noch aus den Augenwinkeln, wie die Eheleute sich in die Arme fielen.