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geschrieben 2017 von Christine Todsen.
Veröffentlicht: 13.02.2020. Rubrik: Menschliches


Lauras Herkunft

Dass sie adoptiert war, wusste Laura von Anfang an. Sie liebte ihre Adoptiveltern Frank und Iris, und als Frank einem Herzinfarkt erlag, war das für die damals Elfjährige ein kaum zu verkraftender Schicksalsschlag.

Dennoch hätte sie gern gewusst, woher sie stammte. Als Kind fragte sie unbefangen: „Wer sind meine richtigen Eltern?“, was Frank und Iris offensichtlich betrübte. „Du hast niemals andere Eltern gekannt als uns! Und wer deine leiblichen Eltern sind oder waren, das können wir dir beim besten Willen nicht sagen.“

Mit fünfzehn kam Laura eines Tages wegen Unterrichtausfalls zwei Stunden früher nach Hause und hörte Iris im Wohnzimmer mit jemandem reden. Die Stimme mit dem eigentümlichen, durch einen Sprechfehler hervorgerufenen Klang erkannte sie sofort, obwohl ihr letztes Gespräch mit der Besucherin schon lange zurücklag. Es war Grit, Iris‘ Cousine. Eine seltsame, gestörte Frau, die sich abkapselte und nur zu Iris ein gewisses Vertrauensverhältnis zu haben schien. Daher kam sie manchmal bei ihr vorbei, wenn sie wusste, dass Iris, die zu Hause ein Schreibbüro betrieb, allein in der Wohnung war.

Obwohl die Wohnzimmertür nur angelehnt war, schien keine der beiden Lauras Kommen gehört zu haben. Sie wollte sich gerade bemerkbar machen, als sie Grits Worte vernahm, die trotz der Sprechstörung gut verständlich waren:

„Nette Fotos! Laura hat so schöne dunkle Locken – man sieht, dass sie die Tochter von Simone ist.“

Laura erstarrte. Grit wusste, wer ihre leibliche Mutter war! Und Iris wusste es offenbar auch!

Leise schlich sie zurück zur Wohnungstür, öffnete sie vorsichtig, trat hinaus und bemühte sich, die Tür so lautlos wie möglich wieder hinter sich zu schließen.

In einem nahegelegenen Park setzte sie sich auf eine Bank und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Ihre leibliche Mutter hieß also Simone und hatte vermutlich die gleichen dunklen Locken wie sie. Ihr fiel keine Frau in ihrem Umfeld ein, auf die diese Eigenschaften zutrafen. Allerdings war sie nicht in ihrer jetzigen Heimatstadt zur Welt gekommen, sondern in Berlin. Unter den wenigen Berlinerinnen, die sie kannte, gab es jedoch ebenfalls keine dunkellockige Simone…

Nach langem Grübeln trat Laura den Heimweg an, denn inzwischen waren fast zwei Stunden vergangen, und Iris erwartete ihre Rückkehr. Grit würde mit Sicherheit nicht mehr in der Wohnung sein. Laura wusste, dass sie es nach Möglichkeit vermied, mit ihr zusammenzutreffen.

„Na, Laura, wie war’s?“, fragte Iris ahnungslos. Dann bemerkte sie den Gesichtsausdruck der Jugendlichen und fragte verwirrt: „Ist was?“

„Mama“, sagte Laura, „ich war soeben schon einmal hier und hörte, dass Grit bei dir war. Sie sagte gerade, ich sei die Tochter von einer Simone! Ihr kennt meine leibliche Mutter also doch! Sag mir jetzt endlich, wer sie ist!“

Einen Augenblick lang sah es so aus, als verlöre Iris die Fassung. Dann hatte sie sich wieder im Griff. Langsam zog sie einen Stuhl herbei und setzte sich. „Laura“, seufzte sie, „du weißt doch, dass Grit psychisch gestört ist. Dazu gehört auch, dass sie Geschichten erfindet, die sie anschließend für wahr hält. Auch die Story von dieser Simone muss ich mir schon seit Jahren anhören. Angeblich war sie eine frühere Klassenkameradin von Grit, die im Berliner Drogenmilieu gelandet war und bei deiner Geburt gestorben ist. Kein Wort davon stimmt. Zufällig kenne ich nämlich eine Frau, die tatsächlich mit Grit zusammen zur Schule gegangen ist. Sie sagte mir, bei ihnen sei keine einzige Simone gewesen!“

„Aber du hast Grit nicht widersprochen!“

„Weil es keinen Zweck gehabt hätte! Sie wird aggressiv, wenn man ihre Hirngespinste in Frage stellt.“

Als die Fünfzehnjährige immer noch zweifelnd blickte, stand Iris auf. „Laura, ich kann verstehen, dass du beunruhigt bist. Deshalb schwöre ich dir hiermit, dass es diese Simone nie gegeben hat!“ Sie hob die Hand zum Schwur.

Jetzt musste Laura ihrer Adoptivmutter glauben, denn diese hatte sie gelehrt, dass man niemals einen Meineid schwören dürfe. Ihre Herkunft blieb ihr ein Geheimnis.

*

Nach dem Abitur zog Laura zum Studium in eine weit entfernte Stadt. Sie war im zweiten Semester, als Iris eines Vormittags anrief. Grit war plötzlich verstorben.

Iris bat Laura, für einige Tage heimzukommen. „Könntest du vielleicht schon heute Abend hier sein? Grit wird zwar auf eigenen Wunsch anonym bestattet, aber es ist trotzdem manches zu erledigen... Und da wir die einzigen Angehörigen sind...“

Um sieben Uhr abends kam Laura zu Hause an. Nach einem kleinen Imbiss in der Küche bat Iris: „Komm bitte mit ins Wohnzimmer, Laura. Ich muss dir etwas sehr Wichtiges sagen.“

Der feierliche Ton ihrer Adoptivmutter ängstigte die junge Frau. Beklommen folgte sie ihr und setzte sich neben sie an den alten Tisch. Iris sagte:

„Ich hatte Grit versprechen müssen zu schweigen, aber jetzt kann ich es dir endlich sagen. Grit war deine leibliche Mutter.“

Geschockt starrte Laura sie an und wurde dann von einem Weinkrampf übermannt. Iris streichelte sie tröstend.

„Sie war mit deinem leiblichen Vater verlobt“, fuhr Iris schließlich fort. „Drei Tage vor dem Hochzeitstermin ist er tödlich verunglückt. Erst danach stellte Grit fest, dass sie schwanger war. Zuerst vertraute sie sich nur mir an. Es war ihr maßlos peinlich, ein uneheliches Kind zu bekommen. Sie wollte abtreiben. Aber ich bat sie, es nicht zu tun. Ich war unfruchtbar und hatte mit Papa schon früher über die Möglichkeit einer Adoption gesprochen. Als ich ihm von Grits Problem berichtete, waren wir uns sofort einig, dass wir dich haben wollten.“

„Danke“, stammelte Laura und umarmte sie.

„Grit zog dann nach Berlin, wo niemand sie kannte. Dort brachte sie dich zur Welt. Nach deiner Geburt kamst du sofort zu uns. Erst drei Jahre später kehrte Grit zurück, in der Hoffnung, dass hier keiner etwas vermutet hatte. In Wirklichkeit hatte es durchaus einiges Getuschel gegeben, als Grit plötzlich verschwunden war und sieben Monate später bei ihrer Cousine ein Baby auftauchte. Aber natürlich sagte ich ihr das nie. Sie hätte sich womöglich umgebracht.“

„Wie im neunzehnten Jahrhundert! Sie muss wirklich schwer gestört gewesen sein. Später hat sie ja sogar das Hirngespinst entwickelt, ich sei die Tochter von einer Simone!“

Iris wurde plötzlich verlegen. „Jetzt muss ich dir etwas gestehen, Laura. Das mit den Hirngespinsten war eine Notlüge von mir –“

Was???“, schrie Laura fassungslos. „Du hattest mir doch geschworen, dass... Und soeben sagtest du doch, Grit sei meine...“

Trotz der ernsten Situation musste Iris lachen, als sie Lauras entsetztes Gesicht sah. „Beruhige dich, Schätzchen! Geschworen hatte ich, dass es ‚diese Simone’ nie gegeben hatte. Das durfte ich auch schwören, denn Grit hatte keine Frau gemeint. Ihr Verlobter hieß so. Er kam aus Italien. Dort ist Simone ein Männername.“

Laura verschlug es fast die Sprache. Ihr wurde plötzlich klar, dass Grit den Namen italienisch ausgesprochen hatte. Damals hatte sie das nicht erkannt, denn schließlich hatten bei Grit die meisten Wörter irgendwie anders geklungen. „Dann bin ich ja eine halbe Südländerin! Wie hieß Simone denn mit Nachnamen?“

„Den Nachnamen habe ich mir nie merken können“, schmunzelte Iris. „Aber ich habe noch die Einladung zur Hochzeit, wo er draufsteht. Mit einem Foto der beiden. Ich suche sie dir nachher raus.“

„O ja, bitte! – War Grit eigentlich schon früher so seltsam? Mich wundert, dass Simone sie heiraten wollte. War er ebenfalls gestört?“

„Nein, zumindest er machte einen ganz normalen Eindruck“, erinnerte Iris sich. „Sie – das ist schwer zu sagen. Den Sprechfehler hatte sie schon immer. Ansonsten verhielt sie sich früher eigentlich unauffällig und war vor allem sehr hübsch. Erst nach Simones Tod veränderte sie sich rapide.“

„Ein tragisches Schicksal. Ich bin ihr dankbar dafür, dass sie mich zur Welt gebracht hat. Und auch dafür, dass sie mich zur Adoption freigab, sodass ich zu dir und Papa kam.“

Iris drückte ihre Tochter an sich. Dann sagte sie: „Ich verstand ja, dass du gern wissen wolltest, wer deine leiblichen Eltern waren. Es tat mir immer leid, dass ich es dir nicht sagen durfte.“

„Und mir tut es leid, dass ich damals fragte, wer meine richtigen Eltern seien. Denn das wart ja ihr!

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