Veröffentlicht: 24.10.2019. Rubrik: Grusel und Horror
Lisbeth
Cora wusste kaum noch weiter. Erst die Scheidung, jetzt der Verlust ihrer Arbeitsstelle. Ihr einziger Trost waren ihre 16-jährige Tochter Emily und das kleine Haus, das ihren früh verstorbenen Eltern gehört hatte und in dem jetzt nur noch sie und Emily wohnten.
Hoffentlich werde ich das Haus nicht verkaufen müssen, dachte Cora.
„Emily! Abendessen!“, rief sie. Das Mädchen kam und fragte verwundert: „Meinst du mich?“
Cora starrte sie an. Was sollte diese Frage? War Emily etwa geistig weggetreten? Stand sie unter Drogen? Lieber Gott, flehte sie stumm, nicht auch das noch.
„Warum nennst du mich denn Emily, ich heiße doch Lisbeth.“
Lisbeth? Cora traute ihren Ohren nicht. So hatte ihre, Coras, Mutter geheißen, die zusammen mit ihrem Mann schon lange vor Emilys Geburt tödlich verunglückt war!
Fieber hatte die Jugendliche nicht. Bis auf ihre seltsamen Worte wirkte sie auch ganz normal. „Setz dich schon mal an den Tisch“, sagte Cora, „ich muss noch schnell etwas erledigen.“
Mit ihrem Handy zog Cora sich in das entfernteste Zimmer zurück, wo das Mädchen sie nicht hören konnte, und rief Dr. Hartmann an, der schon zur Zeit ihrer Eltern der Hausarzt der Familie gewesen war. Zum Glück war er trotz der späten Stunde noch in der Praxis. Mit vor Sorge zitternder Stimme berichtete sie ihm, was sich ereignet hatte. „Was ist mit Emily los, Herr Doktor? Ist sie psychisch krank?“
„Glaube ich nicht. Es könnte sein, dass Ihre verstorbene Mutter Ihnen etwas mitteilen möchte und Emily als Medium benutzt. Wenn die Seele Ihrer Mutter ihr Ziel erreicht hat, wird sie Emily wieder verlassen. Emily wird dann gar nichts mehr davon wissen, und Sie sollten es ihr auch nicht erzählen. Hören Sie jetzt aber genau hin, was sie sagt.“
Cora versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, als sie an den Esstisch zurückkehrte, wo Emily/Lisbeth bereits mit gutem Appetit ein belegtes Brot verzehrte.
„Alles in Ordnung?“, fragte Cora und vermied es, ihre Tochter beim Namen zu nennen. Es fiel ihr auf, dass deren sonst unvermeidliches Handy diesmal nicht neben dem Teller lag. Normalerweise hätte sie sich darüber gefreut, jetzt gruselte sie sich. Lisbeth hatte noch kein Handy gekannt…
„Wann gehen wir denn endlich in den Keller, Kikilein?“ Cora zuckte zusammen, als sie den Kosenamen hörte, mit dem ihre Mutter sie gerufen hatte.
„In den Keller? Äh… wir können jetzt sofort gehen“, stammelte Cora, die keine Ahnung hatte, was sie dort sollte.
Emily/Lisbeth stand auf und ging vor ihrer Mutter/Tochter her zur Kellertür. Zielstrebig stieg sie die Treppe hinab und steuerte eine Ecke an, in der, seit Cora denken konnte, einige alte Möbel standen. Jetzt räumte Emily/Lisbeth sie beiseite und zeigte auf eine Klappe, die Cora nie gesehen hatte: „Hier haben dein Vater und ich Geld versteckt. Wir konnten es dir leider nicht mehr sagen…“
Mit zitternden Fingern öffnete Cora die Klappe. Zum Vorschein kamen unzählige Bündel von 100-DM-Scheinen. Tränen stiegen ihr in die Augen. Man kann sie in Euro umtauschen, dachte sie, und da ich keine Geschwister habe, gehören sie allein mir... „Danke, Mama und Papa!“, flüsterte sie und wollte sich zu ihrer Mutter umdrehen. Doch da stand niemand mehr.
„Emily!“ Wo war sie? Wie ging es ihr? Cora hetzte die Kellertreppe hoch und lief zum Esstisch.
„Da bist du ja endlich, Mum“, maulte ihre Tochter und presste gleich wieder ihr Handy ans Ohr: „Ja, hier ist Emily…“