Veröffentlicht: 21.10.2019. Rubrik: Märchenhaftes
Der Straßenname
Bis zu seinem Tod im Gefängnis hatte der als Mörder verurteilte Karl Behrend seine Unschuld beteuert. Nach seiner Beisetzung gab die Witwe seinen letzten Wunsch bekannt: „Wenn einmal der wahre Täter gefunden wurde, soll die erste Straße, die danach in meiner Stadt fertiggestellt wird, Karl-Behrend-Straße heißen. Und unter dem Straßenschild soll der Hinweis stehen, dass ich ein Justizopfer war.“
Fünf Jahre danach wurde ein Serienmörder gefasst. Bald stellte sich heraus: Er hatte auch die Tat begangen, für die Karl Behrend verurteilt worden war.
Sofort bildete sich in dessen Heimatstadt die Initiative Karl-Behrend-Straße und forderte, dass die kurz vor ihrer Vollendung stehende Prachtstraße rund um die Stadt, die eigentlich nach einem früheren Bürgermeister – dem Großvater des jetzigen – benannt werden sollte, stattdessen den Namen des Justizopfers tragen solle. Die Stadt lehnte dies ab mit der Begründung, dass der Straßenname längst feststünde. Daraufhin startete die Initiative eine Online-Petition, die von Zehntausenden unterschrieben wurde.
Der Stadtrat trat zusammen, um eine Lösung zu finden. „Keinesfalls soll die neue Straße nach diesem Behrend benannt werden!“ Schließlich hatte ein Ratsherr eine Idee:
„In meinem Bezirk liegt die Feldstraße und parallel dazu die Wiesenstraße. Beide sind durch eine Art Trampelpfad miteinander verbunden. Den könnte man zur Straße ernennen. Die wäre dann sozusagen als erste fertig und könnte Karl-Behrend-Straße heißen. Meinetwegen auch mit Justizopfer-Hinweisschild.“
Gesagt, getan. Wenig später erfuhr die Öffentlichkeit, dass die Feld- und die Wiesenstraße jetzt durch die Karl-Behrend-Straße miteinander verbunden seien. Die Empörung wuchs ins Unermessliche.
Eine Woche vor der geplanten Einweihung der neuen Prachtstraße erhielt der Bürgermeister die Nachricht, dass die Fertigstellung sich verzögere. Die Straßendecke sei aufgeplatzt, ohne dass eine Ursache dafür erkennbar sei.
„Das waren die Aktivisten!“, schäumte der Bürgermeister. Nachforschungen ergaben jedoch, dass dies nicht der Fall sein konnte. Es handelte sich um einen Schaden, wie er bei sehr großer Hitze auftreten kann. Seltsam war, dass die Temperaturen in letzter Zeit nie über zwanzig Grad gelegen hatten.
Tags darauf erfuhr der Stadtchef von einem weiteren Mysterium. An der neuen Karl-Behrend-Straße, dem umgewidmeten Trampelpfad, hatte sich in einem Baum ein Vogel unbekannter Art niedergelassen. Sein Gefieder glänzte golden. Wann immer ihm eine Feder ausfiel, wuchs sofort eine neue nach. Unaufhörlich flog er über die Karl-Behrend-Straße und wieder zurück, sodass sie bald ganz von Goldfedern bedeckt war.
Als die Witwe des unschuldig Verurteilten davon hörte, vermutete sie etwas. Mit ihren Kindern ging sie zu dem Baum und rief einen Kosenamen, den nur sie für ihren Mann benutzt hatte. Der Vogel flog herab und setzte sich auf ihre Hand.
Noch am selben Tag suchte sie den Bürgermeister auf und sagte: „Die kleine Karl-Behrend-Straße kann bleiben. Aber auf der geplanten Prachtstraße ruht kein Segen. Wandeln Sie die Baustelle um in einen Grüngürtel!“
So kam es, dass heute ein Band aus Grün- und Freiflächen die Stadt umschließt. Einheimische und Auswärtige freuen sich gleichermaßen an der Natur. Und manchmal, ja manchmal findet ein Kind im Gras eine goldene Feder.