Veröffentlicht: 13.09.2019. Rubrik: Spannung
I. Vincent
Dunkle Wolken zogen über die Berliner Innenstadt, ein Platzregen ergoss sich über die Hochhäuser und grauen Betonblöcke. Menschen auf den Straßen rannten panisch herum, hielten sich Taschen oder Zeitungen über den Kopf und versuchten verzweifelt einen Unterstand zu finden.
Ein heller Blitz zuckte wie ein Pfeil aus den Wolken, welcher die Straßen der Hauptstadt für einen kurzen Moment erhellte. Gefolgt von einem unheilvoll klingendem Donner, machte sich das typische Sommergewitter über die Stadt her. Ein wiederholter Knall ließ Vincent die Augen aufreißen. Er lag bäuchlings auf seinem Bett, die Hände eng an seinen Körper gepresst, als wäre er wie ein Brett in sein Schlafgemach gefallen. Er brauchte einen kurzen Moment um zu realisieren wo er sich befand und wo die Ursache für den lauten Knall her kam, der ihn so unsanft geweckt hatte.
Er rieb sich die Augen und versuchte sich anschließend aufzurichten, ,,bloß keine hektischen Bewegungen‘‘, dachte er sich, nachdem er bei der ersten Regung seines Körpers einen stechenden Schmerz in seinem Kopf vernahm. Nach einer gefühlten Ewigkeit gelang es ihm letztendlich sich in eine stehende, jedoch nicht ganz aufrechte Position zu begeben und begann sich in Richtung Badezimmer zu bewegen. Wie ein Zombie schlürfte er mit den Füßen über den Boden und stolperte nach einigen Schritten über leere Bierflaschen, welche bevor sie klirrend davon rollten, neben seinem Bett auf dem Boden standen. Er würdigte sie kurz mit einem desinteressierten Blick, wobei ihm auf seinem Nachttisch noch eine halb leere Schnapsflasche zu grinste und ihm wieder klar wurde woher seine unerträglichen Kopfschmerzen kamen. ,,Ein ganz normaler Morgen‘‘ sagte er in Gedanken und torkelte den Flur seiner Einzimmerwohnung hinunter in Richtung Badezimmer. Dort angelangt verrichtete Vincent sein morgendliches Geschäft und stand nun am Waschbecken. Er wusch sich die Hände und warf sich kaltes Wasser ins Gesicht, griff nach einem Handtuch und trocknete sich ab, danach schmiss er das Tuch in eine Ecke und sein Blick wanderte von dem Waschbecken geradezu auf die Wand an der ein dreckiger Spiegel hing. Nun schaute ihn ein trauriger Mann mittleren alters an, die Augen blutunterlaufen, das Gesicht eingefallen. Rasiert hatte er sich schon seit Tagen nicht mehr und die dunkel braunen Haare auf seinem Kopf standen in alle Richtungen. Vincent strich sich mit einer Hand durch den Bart und versuchte seine Haare platt zu drücken. Er begutachtete sich mit einer Mischung aus Selbsthass und Mitleid, vor 4 Monaten war alles besser seufzte er.
Seine Gedanken verloren sich und er landete genau dort wo sein Elend begann. Es war ein schöner und warmer Frühlingstag, ein guter Tag um nach draußen zu gehen, seine Frau und sein Sohn waren begeistert von der Idee, sie wollten zum Spielplatz spazieren und anschließend noch ein Eis essen gehen. So wie jeden Samstagmorgen, saßen sie beisammen und frühstückten. Sein kleiner Junge war ganz aufgeregt, schließlich war es mit 3 ½ Jahren noch ein absolutes Highlight auf den Spielplatz zu gehen, er konnte es kaum erwarten aus dem Haus zu stürmen. Während sein Sohn ihnen aufzählte welche Rutsche er als erstes runter rutschen und welche Abenteuer er danach erleben möchte, beobachtete er seine Frau, wie sie mit leuchtenden Augen den Geschichten des kleinen Jungen lauschte, sie lächelte ihn an und sah zu Vincent hinüber, gerade als er hoffte das dieser Moment niemals vergeht, versetzte ihm etwas einen innerlichen Stich, das Bild seiner Frau und seines Sohnes verschwamm und auf einmal befand er sich auf dem Spielplatz. Es war bereits früher Nachmittag, er und seine Frau hatten sich dazu entschieden, den Weg zum Eiskaffee, welches nur ein paar Straßen weiter war, anzutreten. Nun lief die dreiköpfige Familie den Bürgersteig entlang, sie genossen die Sonnenstrahlen auf ihrer Haut, die Bäume fingen an zu blühen und die ersten Vögel sangen ihre Lieder. Als Vincent verträumt die Umgebung beobachtete und sich nichts schöneres vorstellen konnte als in diesem Moment, an diesem Ort mit seiner Familie zu sein, riss ihn der Schrei seiner Frau aus den Gedanken. Der kleine Junge hatte sich unbemerkt von ihnen entfernt und stand nun mitten auf der Straße, gute 10 Meter vor ihnen, er drehte sich zu seinen Eltern um und rief ihnen zu, sie sollen sich beeilen, scheinbar hatte ihn der Appetit auf Eis so sehr angetrieben, das er vorlaufen musste. Vincents Frau war schneller als er, sie rannte auf den kleinen zu und wollte ihn von der Straße nehmen, in dem Moment als sie ihren Sohn in die Arme nahm und ihn vom Boden riss, kam aus einer Seitenstraße ein Auto. Es schien immer schneller zu werden, warum bremst es nicht ab ? Mit weit aufgerissenen Augen schrie Vincent seiner Frau zu, doch es war zu spät. Das Auto erfasste die beiden. Mit schmerzverzerrtem und fassungslosen Blick sprintete er auf die Unfallstelle zu, noch bevor er dort ankam, konnte er nur noch die Rückseite des Autos sehen, das mit quietschenden Reifen davon fuhr. Den Anblick seiner Frau und seines Sohnes wie sie regungslos da lagen, wird Vincent bis zu seinem Lebensende verfolgen.
Ein lauter Donner brachte Vincent wieder zurück in die Realität, er stand immer noch in dem Badezimmer seiner kleinen, heruntergekommenen Wohnung, blickte in den Spiegel und merkte das ihm Tränen über sein Gesicht liefen. Er atmete tief durch, wischte sich mit seinem Arm die Tränen weg und ging zurück zu seinem Bett, ließ sich fallen, griff nach der Schnapsflasche die auf dem Nachttisch stand, öffnete sie und nahm einen großzügigen Schluck. Neben der Flasche auf dem Tisch stand ein Foto, Vincent beäugte es mit immer noch feuchten Augen, zu sehen waren er, seine Frau und sein Sohn. Alle drei stehen vor einem kleinen Haus, es war das Haus, welches er damals mit seiner Frau zusammen gekauft hatte nachdem die beiden sich entschlossen hatten eine Familie zu gründen. Dort wollten sie zusammen alt werden, ein zweites Kind sollte dazu kommen und die Geschwister sollten dort sorglos aufwachsen, bis sie ihre eigenen Wege gehen. Vincent musste daran denken wie er mit seinem Sohn in dem kleinen Garten zusammen Fußball spielte, abermals liefen ihm die Tränen über sein Gesicht und abermals nahm er einen Schluck aus der Schnapsflasche. Das Haus hatte er verkauft, es hatte ihn zu sehr an das Unglück erinnert, mit seinen Freunden hatte er auch so gut wie keinen Kontakt mehr, er wollte nicht immer mit dem gleichen wehleidigen Blick angeguckt werden oder hören das alles wieder gut wird. ,,Für mich wird gar nicht mehr gut !‘‘ sagte Vincent leise und strich mit einem Finger über das Foto. ,,Meine Frau ist tot und mein Sohn auch ! Mir wurde alles genommen!‘‘ sagte er immer lauter werdend. Erneut versuchte er den Kummer mit einem Schluck zu ertränken. Sein Sohn ist noch am Unfallort gestorben, nachdem er verzweifelt versucht hatte ihn wieder zu beleben riss ihn letztendlich ein hilfsbereiter Passant von dem leblosen Körper seines Sohnes weg und versuchte die lebensrettenden Maßnahmen weiter durch zu führen. Vincent wurde gesagt das ein Notarzt bereits auf dem Weg sei und seine Frau noch Puls hätte. Von da an erinnerte er sich an nichts mehr, sein Gedächtnis setzte erst wieder ein als er in dem Krankenhaus stand, mit blutverschmierten Klamotten und Händen, paralysiert von dem Schock der ihn tief getroffen hatte, er schaute den Chefarzt an der mit ihm redete und versuchte alles zu erklären, doch die einzigen Worte die bei Vincent hängen geblieben sind, waren :,, Es tut uns leid, wir konnten nichts mehr für sie tun.‘‘ Und das miese Arschloch das an dem Tag Fahrerflucht begangen hatte, hat die Polizei nie bekommen, fluchte er.
Der Donner ließ ihn zusammen zucken, er fing sich, schaute aus dem Fenster auf das der Regen nieder prasselte und leerte den Rest der Flasche in einem Zug. Er hoffte die Lösung seiner Probleme auf dem Boden einer Flasche zu finden, doch je mehr Flaschen Vincent leerte, desto mehr Probleme schien er zu bekommen. Seinen Job hatte er verloren, er war einmal ein angesehener Architekt, wurde zu wichtigen Firmenmeetings eingeladen, durfte bedeutende Entscheidungen alleine treffen und hat sich um große Bauprojekte in Berlin gekümmert. Ihm unterstanden vier Mitarbeiten zu denen er ein sehr gutes Verhältnis pflegte, aber jetzt ? Jetzt sitzt er in Boxershorts und T-Shirt auf seinem Bett und versucht den Tag damit zu verbringen so viel Alkohol in sich rein zu kippen bis er einschläft oder einfach stirbt. Sein letztes Geld das von seinem Ersparten und dem Erlös seines Hauses übrig war, investierte er fleißig in Spirituosen und Zigaretten, die Miete hatte er seit zwei Monaten nicht mehr bezahlt. ,,Wenn ich jetzt auch noch Obdachlos werde, dann spring ich von einer Brücke!‘‘ sagte er lachend als würde er es provozieren wollen. Zu oft stand er schon hinter dem Geländer einer Brücke und schaute nach unten in den schwarzen Abgrund der sich unter ihm ergab. Wie ein Magnet schien ihn die Dunkelheit nach unten ziehen zu wollen, doch jedes mal besann er sich eines besseren, stieg zurück über das Geländer und ging zum nächst gelegenen Laden und kaufte sich eine Flasche Schnaps. Es donnerte. Vincent warf erneut einen Blick nach draußen, der Regen schien zugenommen zu haben und das Gewitter wird wohl nicht so schnell aufhören. Er ließ sich rücklings auf sein Bett fallen und beschloss einfach liegen zu bleiben. So lange bis es einen guten Grund gab der ihn dazu zwang sich zu bewegen oder einen Fuß vor die Tür zu setzen. Ohne zu blinzeln lag er auf dem Bett und starrte die Decke an, langsam führte er die Schnapsflasche, die er immer noch fest in seiner Hand hielt, zu seinem Mund und wollte einen Schluck nehmen. ,,Scheiße!‘‘ knurrte er, ,,die ist ja leer!‘‘
Da war der Grund, stöhnend richtete Vincent sich wieder auf und ließ den Blick durch die Wohnung schweifen, irgendwo muss hier doch noch etwas stehen dachte er sich. Doch alles was er sah waren leere Flaschen die überall in der Wohnung verteilt standen, auf seinem kleinen, runden Esstisch ließ sich zwischen ihnen etwas blicken das so aus sah als wäre es einmal etwas zu Essen gewesen. Der Stuhl der neben dem Tisch stand, war gar nicht mehr als solcher zu erkennen, er war bedeckt mit lauter Klamotten die Vincent lieblos auf ihn geschmissen hatte. Der Tisch stand in einer kleinen Küche, sie war das sauberste an der ganzen Wohnung. Vincent war nicht der begabteste Koch und wollte sich nicht die Mühe machen etwas zu Essen zu kochen. Er hatte generell nicht viel Hunger und wenn, dann stillte er ihn mit Fastfood. Seine Küche hatte er von daher zu einer Flaschenablage umfunktioniert. Gegenüber der Küchenzeile befand sich ein Fenster unter dem der Tisch stand, auf dem Fensterbrett hatte er einen Aschenbecher stehen, der mittlerweile schon so voll war das sich der Inhalt zu einem Berg aus Asche und Zigarettenstummeln auftürmte. Zigaretten brauchte er auch noch, stellte Vincent missmutig fest. Es führte kein Weg daran vorbei, er musste aufstehen und die Wohnung verlassen um seinen neu erworbenen Lebensstil weiter führen zu können. Er verzog das Gesicht und stand auf.
Aus den unterschiedlichsten Ecken seiner Wohnung zog er Sachen von denen er der Meinung war sie noch anziehen zu können hervor und begann sich langsam zu bekleiden. Eine Jogginghose muss reichen, sagte er, während er sie anzog. Er wollte nicht lange unterwegs sein und um sein Aussehen machte er sich schon lange keine großen Gedanken mehr.
Aus dem zusammengewürfelten Haufen auf dem Stuhl zog er einen abgetragenen und ausgewaschenen Pullover hervor und warf ihn sich über. Unter dem Bett fand er noch zwei verschieden Farbige Socken, die noch nicht ganz so streng rochen, wie er feststellte als er seine Füße mit ihnen bekleidete. Jetzt war das perfekte Bild eines heruntergekommenen und verlebten Mannes vollendet. Vincent schlüpfte in seine mittlerweile abgelaufenen Schuhe und griff nach seiner Jacke die in der Garderobe neben der Haustür hing. Gerade als er die Wohnungstür öffnen wollte um die Wohnung zu verlassen geriet er ins stocken. ,, Es ist soweit!‘‘ sagte er mit einem hauch von Vorfreude. Sein Blick ist auf dem Kalender neben der Tür hängen geblieben, wie konnte er das nur vergessen ? Heute vor genau 4 Monaten war das Unglück, das Vincents Leben zur Hölle machte und genau Heute ist es soweit. ,,Heute ist es soweit‘‘ sagte er erneut während sich dabei ein breites Grinsen auf seinem Gesicht erstreckte. Er konnte es nicht zurück halten und fing an zu lachen, ein lautes und beängstigendes Lachen. Vincent öffnete die Tür seiner Wohnung, trat in den Flur, ließ die Tür zu fallen und verschwand im Treppenhaus.