Veröffentlicht: 24.05.2015. Rubrik: Unsortiert
Die Schrippe vom LP12
Ich sitze am Schwedtsee in Fürstenberg/Havel. Hierher gegangen bin ich, weil ich die Enten füttern will, mit der Schrippe, die mir gestern im Kaisers, in der Mall of Berlin am Potsdamer Platz zu meiner Kartoffelsuppe gereicht wurde, die ich nicht mehr aß, da ich satt war und sie für die Enten am Schwedtsee mit nach Hause genommen habe um sie zu füttern. Einige Meter von mir entfernt sitzt eine Großmutter mit ihrem kleinen Enkel und sie füttern ebendiese Enten.
"Wenn ich sie nun hervorhole, die Schrippe und beginnen würde die Enten zu füttern, dann würden die Enten von dem Jungen hinfort schwimmen und dan säße er da mit seinem Brot und wäre vermutlich traurige und würde gar weinen. Ich will ihn nicht weinen sehen, zu viele Tränen sind schon in diesen See geflossen. Er soll dieses Erlebnis in seinem kindlichen Gedächtnis behalten um sich später vielleicht wieder einmal daran zu erinnern und es soll ihm dann ein Lächeln in sein Gesicht zaubern." Somit lasse ich die LP12-Schrippe noch eine Weile dort wo sie jetzt ist, behutsam eingepackt in eine Serviette, gut verstaut in meinem Rucksack.
Den Rucksack, den ich schon so viele Tage, Wochen, Monate mit mir herumtrage und der meinen Nacken immer steifer und meinen Rücken immer schiefer werden lässt. "Wo waren wir nicht schon überall, mein Rucksack und ich, am Wannsee, auf dem Selbstmörderfriedhof an Nicos Grab - eine unglaubliche Ruhe und Atmosphäre umgibt diesen Ort, ach, seufzt mein Herz, hier fänd' ich meine letzte Ruh', am Teufelsberg vorbei sind wir gefahren, die Bergmannstraße rauf und runter, Bowie im Martin-Gropius-Bau haben wir gesehen und Arcade Fire in der Wuhlheide - ach Freek, ja Freek ist tot schon jetzt ein Jahr."
Zurück am Schwedtsee, aus meinem Gedankenstrom erwacht, lasse ich meinen Blick schweifen. Vor mir die Yachten, gemietet von Touristen, sie schippern die mecklenburgische Seenplatte entlang. Im Hintergrund das ehemalige KZ Ravensbrück.
"Just fallen sie mir wieder ein, die grausigen Geschichten, die Anja Lundholm mir vor kurzem erzählte in ihrem Buch über ihre Zeit in Ravensbrück, die ich vor kurzem las. Hätte sie oder eine ihrer Kameradinnen damals diese meine von mir aufbewahrte Schrippe bekommen können, hätte dies 1 Tag länger leben bedeutet..."
Stattdessen bleibt mein Blick hängen an einem orange-lilafarbenen Punkt auf einem dieser Stege zwischen all den teuren Yachten. Zunächst kann ich diesen farbigen Punkt nicht einordnen, doch dann fängt er an sich zu bewegen - steht auf, kniet sich hin, streckt sich lang und immer wieder im selben Turnus.
"Langsam begreift mein Hirn diesen Punkt und kreiert eine Gestalt. Der Punkt ist eine Frau, eine Touristin wohlmöglich, die dort auf dem Steg Yoga betreibt."
Neue Yachten legen an, doch sie lässt sich nicht abhalten von ihrer Zeremonie, steht auf kniet nieder und streckt sich lang.
"Ich frage mich was in ihr vorgeht..."
- Der Junge mit seiner Großmutter ist längst Geschichte und ich beginne guten Gewissens die Enten zu füttern, auch eine Möwe ist dabei....
"Vielleicht wohnt einem dieser Federtiere die Seele einer Ravensbrückerin inne und ich füttere ihren unstillbaren Hunger von damals..."
Die orange-lilane Frau lässt mich nicht mehr los, "Meditiert sie hier in Erinnerung an einen geliebten verlorenen Menschen, hier am Schwedtsee mit Blick auf Ravensbrück? Oder ist sie einfach nur eine Touristin, die sich mit ihrem Ehemann, Rechtsanwalt mit guter Lage in Berlin Mitte, völlig ahnungslos, einfach nur entspannen will von ihrem stressigen Alltag in der Großstadt?
Ich weiß es nicht und werde es wohl niemals erfahren."
Die letzten Krümel sind verfüttert an die Fische.
Ich stehe auf, werfe noch einen letzten Blick auf die Frau, die Enten, die Möwe und Ravensbrück und drehe mich um und lächle, denn das einzig Gute in diesem Wahnsinn ist, dem Kind seine Freude bewahrt zu haben.
(MiriKah)