Veröffentlicht: 02.02.2022. Rubrik: Menschliches
Scherben bringen Glück!
Als Heinrich morgens aufwachte, fühlte er sich ausgeschlafen und frisch. Es war bereits 10:00 Uhr und die Morgensonne schien durchs offene Fenster. Es wird ein schöner Tag werden, dachte er. Er hörte von draußen das Zwitschern der Vögel. Entspannt breitete er die Arme aus und reckte sich.
Dann sah er hinüber zum Bett seiner Frau. Sie war bereits aufgestanden. Aber sie hatte die Flasche Wein, die sie am Abend zuvor geleert hatten, auf ein Tablett gepackt und dieses auf ihr Bett gestellt. Auch sein schmutziges Glas stand noch da. Prima, dachte er, dann kann ich den Tag so beginnen, wie er gestern Abend geendet hat. Er griff hinüber zur Flasche und sah, dass sie leer war. Wollte Carola ihn ärgern? Warum stellte sie keine volle Flasche auf das Tablett? Wo war sie überhaupt? Warum hatte sie ihr eigenes Glas mitgenommen? Fragen über Fragen, die er nicht beantworten konnte, die ihm aber so nach und nach die Laune verdarben. Dabei hatte der Tag recht vielversprechend begonnen.
„Carola, Carola, wo bist du?“rief er laut, so dass es durch’s ganze Haus schallte. Niemand antwortete…
„Na, dann werde ich sie mal suchen“, sagte er zu sich selbst und stieg etwas umständlich aus dem Bett. Zunächst ging er in die Küche. Doch dort war sie nicht. Der nächste Weg führte ihn ins Wohnzimmer, auch hier keine Spur von ihr. Er schaute auf die Terrasse. Es könnte ja sein, dass sie bereits die Morgensonne im Liegestuhl genoss. Auch auf der Terrasse fand er sie nicht. Dafür aber stand die Nachbarin, Frau Müller-Spitz, am Gartenzaun, der ihr Grundstück von dem seinen trennte. „Ist das nicht ein herrlicher Sommertag?“ rief Frau Müller-Spitz überschwänglich.
„Ja“, antwortete er kurz und zerstreut, um dann eine Gegenfrage zu stellen: „Haben Sie meine Frau gesehen?“ Er erblickte das schadenfrohe Blitzen in den Augen der Nachbarin, als sie neugierig zurückfragte: „Wieso? Ist sie weggelaufen?“ Blöde Kuh, dachte er und ohne zu antworten, ging er zurück ins Haus. Er verspürte Druck auf der Blase und lief schnurstracks ins Badezimmer.
Da sah er sie auf dem Badewannenrand sitzend, den linken Fuß hatte sie auf den Oberschenkel des rechten Beins gelegt. Sie war gerade dabei, sorgfältig den linken Fuß zu verbinden. „Was ist passiert?“ rief er erschrocken aus. „Ach, nichts Weltbewegendes“, antwortete sie ausweichend.
Doch dann erzählte sie die ganze Geschichte: Am Abend vorher hatten sie ja bekanntlich eine Flasche Wein im Bett geleert. Anschließend hatte Carola das Tablett mit der leeren Flasche und ihren gebrauchten Gläsern neben ihrem Bett auf den Fußboden abgestellt. Ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit, sie war gestern Abend einfach zu müde gewesen, um noch einmal aufzustehen und das Tablett in die Küche zu bringen. Als sie heute Morgen erwachte, schwang sie mit Elan die Beine aus dem Bett. An das Tablett dachte sie nicht mehr. So landete sie mit den Füßen darauf. Die Flasche kippte um, die beiden Gläser ebenfalls - Wie gut, dass sowohl Flasche als auch Gläser leer waren.
Allerdings fiel eines der empfindlichen Weingläser so unglücklich auf den Rand des Tabletts, dass es zerbrach, und genau in diesen Scherben landete ihr linker Fuß. Sie griff ein Handtuch aus dem Kleiderschrank, da der Fuß zu bluten begann. Dann stellte sie das Tablett samt Inhalt auf ihr Bett, richtete die Flasche sowie das heilgebliebene Glas wieder auf und sammelte die Scherben des zerbrochenen Glases ein, die glücklicherweise nicht allzu zersplittert waren. Sie humpelte zur Küche, um die Scherben im Müll zu entsorgen, dann weiter ins Badezimmer. Dort wickelte sie das inzwischen blutbefleckte Handtuch vom Fuß und schaute sich die Wunde genau an, aber sie konnte keinen Glassplitter mehr entdecken. Sie wusch die Wunde mit kaltem Wasser ab und desinfizierte sie. Dann versuchte sie, auf dem Wannenrand sitzend, einen Verband um den Fuß anzulegen.
Er hatte ihrer Geschichte ruhig zugehört, so dass er den ersten Schrecken überwunden hatte. Er nahm sie in den Arm und flüsterte: „Und ich dachte schon, du seiest weggelaufen.“ „Wohin denn?“ fragte sie, „mit diesem Fuß.“ Sie streckte das linke Bein mit dem verbundenen Fuß in die Luft. „Ich fahre dich zum Arzt“, antwortete er,“der soll sich das mal anschauen. Zur Sicherheit!“
Als er sein Auto aus der Garage fuhr, kam Frau Müller-Spitz des Weges. „Na, ist Ihre Frau wieder aufgetaucht oder fahren Sie jetzt los, um Sie zu suchen?“ In diesem Augenblick humpelte Carola aus der Haustür. „Nein, Frau Müller-Spitz, mich muss man nicht suchen, ich bin ja hier. Wir machen eine kleine Spritztour zur Feier des Tages. Ich bin heute in Scherben getreten und die, das wissen Sie ja auch, bringen bekanntlich Glück.“
Heinrich stieg aus dem Auto, lief auf Carola zu, und weil sie kaum laufen konnte, hob er sie in seine Arme und trug sie kurzerhand zum Auto. „Schon haben die Scherben Glück gebrach“, rief sie belustigt in Richtung Frau Müller-Spitz, „wer wird schon von seinem Mann auf Händen getragen?“