Veröffentlicht: 25.01.2022. Rubrik: Persönliches
Rote Haare
Ich lernte Erika in der Gymnastikgruppe kennen. Sie stammt aus Bayern, genauer gesagt aus Sonthofen, doch sie lebt schon seit vielen Jahren in Nordrhein-Westfalen. Obwohl sie hochdeutsch spricht, hört man noch immer den bayerischen Akzent heraus, was mir persönlich sehr gefällt. Ich finde, sie ist eine beeindruckende Erscheinung: Sehr selbstbewusst, sportlich, immer elegant gekleidet und das blondierte Haar zu einer schicken Frisur hochgesteckt.
Im Laufe der Zeit ist so etwas wie Freundschaft entstanden.
Eines Tages tauschten wir Kindheitserinnerungen aus. Zu meinem Erstaunen erzählte sie, dass sie als Kind unter ihren damals rötlichen Haaren sehr gelitten habe. Zumal es in den 50er Jahren in Bayern ein sehr bekanntes Lied gab, das die Sängerin Maria von Schmedes 1948 auf einer Single aufgenommen hatte und das fast überall gesungen wurde. In dem Lied hieß es u.a.:
„….I hob rote Hoar, feierrote Hoar sogoar.
Und drum mog mich auch der Hansl ned.
Und drum mog mich auch der Franzl ned.
Und mi'm Hiasl is des gleiche Gfrett.
Nur zweg'n der Frisur
kommt zu mir kein Bua!….“
(Text aus dem Internet kopiert)
Erika war als kleines Mädchen davon überzeugt, dass wegen ihres roten Haarschopfes niemals ein Bub‘ sie leiden könne. Für mich war es eine unerwartet überraschende Seite dieser selbstbewussten Frau.
Meine Gedanken gingen zurück ins Jahr 1952. Als damals Vierjährige war ich völlig fasziniert von einem Nachbarjungen, der dichtes, feuerrotes Haar und viele Sommersprossen hatte. Er hieß Hans-Otto und war ein paar Jahre älter als ich. Wenn ich ihn sah, starrte ich ihn immer ganz unverblümt an. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Ich fand diese Haarpracht ganz wunderbar.
Wir wohnten noch nicht lange im Gelsenkirchener Stadtteil Hüllen, wo mir Hans-Otto erstmals begegnete. Meine Großeltern lebten im benachbarten Stadtteil Bulmke, etwa 3 km entfernt. Oma holte mich sehr oft zu sich nach Bulmke und ich ging stets gerne mit. Meist blieb ich mehrere Tage bei den Großeltern.
Auch dort ging mir Hans-Ottos auffällige Haarpracht nicht aus dem Sinn. Ich schwärmte Oma und Opa von seinen roten Haaren vor und hatte eines Tages eine für meine Begriffe großartige Idee. Ich nahm einen Kamm und kletterte kurzerhand auf Opas Schoß. Dort begann ich, ihn ausdauernd zu kämmen. Opa sollte nunmehr Hans-Otto mit den feuerroten Haaren sein.
Nur leider war Opa blond und hatte ganz dünnes Haar.
Das machte gar nichts, ich hatte soviel Phantasie, mir Opa als Rotschopf vorzustellen. Opa hatte eine Engelsgeduld und ließ sich von mir kämmen, solange ich dazu Lust hatte. Und das nicht nur einmal! Ich glaube, ich spielte fast jeden Tag „Hans-Otto“ mit ihm, wenn ich bei den Großeltern war.
Dass mir dies so gut in Erinnerung geblieben ist, lag wohl weniger an dem Nachbarjungen, sondern an Opa, der damals soviel Geduld aufbrachte.
Viele Jahre später habe ich dazu folgendes Gedicht verfasst:
Als Kind hab ich einen Knaben gekannt,
Hans-Otto wurde er genannt.
Der hatte dickes, feuerrotes Haar,
das fand ich damals wunderbar.
Ich war auch regelrecht verschossen,
in seine Sommersprossen.
Ich habe ihn immer angestarrt
und war in seine Frisur vernarrt.
Ich kannte sonst niemand mit solchen Haaren,
drum verzeih mir, Hans-Otto, mein blödes Gebaren .
Ich war ja erst vier Jahre alt,
ich zog die Konsequenzen bald.
Mein Opa musste Hans-Otto sein.
Doch leider war sein Resthaar fein
und dünn, dazu noch blond.
Doch mit Phantasie hab ich’s gekonnt,
mir Opa als Rotschopf vorzustellen.
Ja, was soll ich euch erzählen?
Mit einem Kamm saß ich auf Opas Schoß.
Ich spielte Hans-Otto und kämmte ihn bloß,
aber mit Ausdauer und Leidenschaft!
Opa brauchte ganz viel Kraft
und mit Geduld hat er’s geschafft,
das Spiel zu Ende zu spielen.
Das hätte Hans-Otto nie gemacht,
denn er war ja auch erst acht.
Wie schön, dass Alte so geduldig sind
aus Liebe zu dem Enkelkind.