Veröffentlicht: 21.01.2022. Rubrik: Menschliches
Der kleine König
Giselas Tante Hedwig, geboren um das Jahr 1900, war der geizigste Mensch, den man sich vorstellen kann, sie gönnte anderen Menschen nicht das Schwarze unter dem Fingernagel. Folgerichtig machte sie auch keine Geschenke. Gern nahm sie den Einkaufsservice ihrer Nichten und Neffen in Anspruch, gab ihnen aber niemals auch nur einen Pfennig als Anerkennung. Kein Wunder, dass diese lieber für Nachbarn einkauften, denen diese Dienste meist 5 Pfennige oder manchmal sogar einen Groschen wert waren.
Nur Gisela, die Lieblingsnichte der kinderlosen Hedwig, besuchte ihre Tante regelmäßig. Sie kam gut mit ihr aus, vielleicht weil sie keine Geschenke erwartete.
Während dieser Besuche erlebte Gisela ihren Onkel, Hedwigs Ehemann Heinrich, meistens still in seinem Ohrensessel sitzend; er hatte bei Hedwig nichts zu melden.
1963 ereilte Gisela die Nachricht, dass Tante Hedwig im Sterben liege. So besuchte sie sie ein letztes Mal. Hedwig war kaum zu erkennen, das Sprechen fiel ihr schwer, als sie röchelnd flüsterte: „ Gisela, nimm dir die Wäscheschleuder!“
Gisela nahm sie nicht, dachte nur, was soll ich mit dem alten rostigen Ding?
Dann starb Tante Hedwig. Ihr Mann Heinrich erbte unter anderem auch die Wäscheschleuder. In ihrem Inneren fand er ca. DM 60.000, damals wahnsinnig viel Geld. Tante Hedwig hatte es sich im Laufe vieler Jahre vom Munde abgespart. Wie sie es geschafft hatte, so viel Geld zu horten, blieb allerdings ein Rätsel.
Diese unerwartet hohe Erbschaft sprach sich wie ein Lauffeuer unter den Verwandten, auch den entferntesten, herum. Nicht wenige wollten sich von nun an gut mit Heinrich stellen, so dass der kinderlose Onkel plötzlich viel Besuch bekam. Heinrich genoß diese neue Aufmerksamkeit, die man ihm entgegenbrachte und er wusste sie zu nutzen. Er verbrachte weiterhin die Zeit in seinem Ohrensessel und kommandierte die Verwandtschaft herum. Diese taten alles, um dem Erbonkel zu gefallen. Sie servierten sogar sein Essen auf einem kleinen Tischchen neben dem bequemen Sessel, so dass er seinen Platz bald nur noch verließ, um seine Notdurft zu verrichten.
Heinrich blühte auf. Das war das Leben, das er sich immer gewünscht hatte. Unauffällig ließ er durchblicken, dass sie alle an seinem Reichtum teilhaben könnten, wenn sie brav täten, was er sagte.
Kurz gesagt: Hedwig hatte unwillentlich aus ihm, dem Unsichtbaren, einen kleinen König gemacht!