Ein netter Mann aus dem Wald

Ein netter Mann aus dem Wald
(Eine schreckliche Kurzgeschichte vom 12.11.21)

Es war einmal... ein sehr hoher Baum, eine Fichte, die ja ganzjährig ihre Nadeln trägt und deshalb auch das ganze Jahr Schatten wirft, auch auf eine Gegend, in der man gar nicht das ganze Jahr Schatten haben möchte.

Und neben ihren sehr breiten Fuß baute einst irgendjemand eine kleine Brücke aus Holz mit nur einem Geländer zu ihrer Seite hin. Das Bett eines rauschenden Baches befand sich darunter, doch es wucherte immer mehr zu, weil der Bach immer weniger Wasser erhielt.

Es blieb zu der Zeit, als zwei Männer die sie störende Fichte beseitigen wollten, nur noch ein tieferes, schlammiges Loch unter dieser Brücke übrig, ansonsten war der Bach den Waldrand entlang in ein sanftes Rinnsal verwandelt.

Früher schloss kein Garten an den Waldrand mit der Fichte und der Brücke an, aber heute, ja, natürlich, die Bauern verkauften ihre Felder als neue Wohngebiete. Auf diese Weise wurden vor einigen Jahren jene beiden Männer Nachbarn; Zaun an Zaun und Zaun an Waldrand mit stillem Bächlein. Und den Jüngeren regte langsam der Schatten der Fichte in seinem Garten auf seiner Terrasse auf. Und heute müsse der Baum weg! So schnell wie möglich! Wer helfe ihm dabei?

Sein freundlicher Nachbar will ihm unter die Arme greifen, weil er meint, dass es sicher auch noch seinen Garten treffen würde, also ist die Baumfällung für ihn zwar noch verfrüht, aber jetzt besser als später, wenn der Schattenbaum in den Himmel gewachsen sei. Seine sonnenhungrige Frau meinte das ebenfalls. Auch die Frau des Nachbarn ist verärgert, weil »dieser dumme Baum« ausgerechnet in der Mitte des täglichen Sonnenlaufs stehen würde. Er müsse eben daher weg!

Wo ist das Problem? Gibt es überhaupt ein Problem bei dieser einfachen Sache? Na ja. Wem gehört denn dieser Baum? Sie können ihn doch nicht einfach so absägen. Oder doch?

Es dauert ein paar Tage, dann ist es so weit. Der Waldbesitzer zeigte sich mit einer gut gesicherten Fällung einverstanden, wenn auch versicherungstechnisch als eindeutig sei, wenn das Holz des Baumes in abtransportierbare Teile zersägt und neben dem Weg aufgeschichtet würde, wenn auf das Tierschutzgesetz wegen der möglichen Brutnester geachtet würde, dass der Baum erst ab dem Oktober dieses Jahres gefällt würde, wenn höchstens zwei Personen bei der Fällung zur Sicherheit anwesend seien und zuletzt, wenn er dafür im Voraus noch einen Kasten helles Bier für seine Waldarbeiter geschenkt bekäme.
Man wurde sich wie erwartet rasch einig!

Und heute ist ein ungewöhnlicher Donnerstag in der ersten Woche des Novembers. Die beiden Nachbarn können sich endlich zur Fällung treffen. Der Ältere nimmt seine gepflegte Kettensäge mit in den Wald, dazu noch einen Hammer, der Jüngere ein Seil, einen Rotstift und ein Geodreieck. Beide hatten sie noch einen »Kurs zur professionellen Baumfällung« belegt und durften bei einer Fällung selbst dabei sein; das war ja von vornherein klar, weil ihre beiden Frauen darauf bestanden haben.

Geplant war 14 Uhr nachmittags, doch leider wurde es nach 16 Uhr, als sie in Richtung »Wald« losmarschieren konnten. Der Nebel sinkt wieder allmählich vom Himmel herab. Es wehte zu wenig Wind. Der Sonnenhimmel verdunkelt sich ins Graue hinein. Das stört die beiden Männer aber nicht, denn ihr Ziel ist klar: Dieser Schattenbaum kommt heute weg!

Der neue Nachbar ist Maschinenbauingenieur und der früher zugezogene mit zwei Kindern Mathe-Physik-Oberstudienrat, allerdings wurde dessen Frau zur Grundschulleiterin ernannt. Die Frau des Ingenieurs wurde Apothekerin wie ihr Vater. Also, wie die sich alle kennenlernten, weiß hier vielleicht niemand. Auf alle Fälle sind die Männer für das technische Handwerk zuständig. Daher dürfen auch nur sie zu ihrer besonderen Werkstelle im Waldrand gehen. Das Betreten dieses Ortes ist derzeit für andere Personen, das heißt Laien, untersagt.

Am Baumstamm messen sie als erste Handlung fachmännisch alles Wichtige aus. Ihr Baum ist gar nicht so hoch und der Stamm am Fuß gar nicht so breit, wie sie es damals auf den ersten Blick richtig einzuschätzen glaubten. Die Höhe wollen sie aufgrund der Schattenlänge ermitteln, so wie es in der Antike schon Diogenes machte, meint der Ingenieur, aber der Lehrer entgegnet: »Aber das waren die Pyramiden und sicherlich Euklid. Wegen der Geometrie und so.«

Sie vermuten, dass der Stamm so etwa eine Tonne wiege. Ihn mit einem festen Seil in eine bestimmte Richtung zu ziehen, sei folglich gar nicht so einfach. Aber der Baum befindet sich zu nahe an dem Brückengeländer. Er muss deshalb entweder mittels der Fallkerbe oder des Zugseiles genau in die ungefährliche Richtung fallen. Die Kerbe muss dazu im rechten Winkel von oben eingesägt werden.
»Mindestens so etwa vierzig Zentimeter von oben!«, denkt der Lehrer, während der Ingenieur das so erklärt: »Dreißig Zentimeter von oben müssen völlig genügen! Und danach kann seitlich und am Ende von hinten der waagrechte Sägeschnitt ausgehöhlt werden, damit der Baum umfällt.«

Sie sind sich also einig, befestigen das Seil in etwa fünf Meter Höhe am Baumstamm nach sehr häufigem und sehr gut gezieltem Werfen.
Es wird allmählich dunkel. Wegen des dichten Nebels auch sogar im Waldrand. Feucht und matschig erscheint der Boden.
Da sagt der Ingenieur mit leichter Scham, dass er ´mal müsse, bevor es losginge. Er habe ja Taschentücher in der Hose und ziehe sich etwas weiter weg hinter den Büschen zurück. »Bis gleich!«, verabschiedet er sich bei dem Lehrer, der ihm entgegnet: »Und ich versuche unterdessen schon die Kerbe im rechten Winkel zur Fallrichtung einzusägen!«

Gesagt, getan. Sie trennen sich, jeder um sein eigenes Vorhaben bestens zu erledigen. Und es fiel dem Lehrer endlich wieder ein: Es war Thales von Milet. Der Gründer der wissenschaftlichen Philosophie aus der Astronomie, indem er als erster Mensch zum Erstaunen aller Leute eine Sonnenfinsternis vorausberechnete. Und er soll in Ägypten einen Stab verwendet haben, um die Höhe der Pyramiden zu messen. Der Schatten seines Stabes hatte bei einem bestimmten Sonnenstand dieselbe Länge wie der Stab. Folglich gilt das auch für die Pyramide: Bei genau diesem Sonnenstand ist die Länge des Schattens der Pyramide auch seine echte Höhe. »So genial einfach ist das«, freut sich laut der Lehrer.

Auf diese Weise hätten die beiden Männer auch die Baumhöhe richtig berechnen können. Aber sie erkannten ja noch, dass das völlig egal für sie ist, weil der Baum eh zu dicht an der Brücke steht.

So – und jetzt ist die Kerbe fertig gesägt. »Wo bleibt mein Nachbar? Er muss jetzt messen, diese seitlichen Einschnitte in der richtigen Höhe!«, rätselt der Lehrer. Da er ihn rundum nirgendwo sieht, lehnt er sich als Pause ans Brückengeländer an und wartet. Es wurde heute früher dunkel als gedacht und auch wegen der dichten Waldbäume und der ausladenden Büsche dazwischen.

Er wartet und weiß gar nicht, was er denken soll. Aus einer Thermoskanne, die neben den Messgeräten steht, nimmt er einen kräftigen Schluck, um sich wieder Kraft zu schenken, so dass er zufällig überlegt, wer denn diese Kanne überhaupt hierherbrachte. Er war es ja nicht! Und sein Nachbar? Nein, auch nicht! Das wäre ihm doch aufgefallen. Oder? Wie kommt denn diese Kanne dann hierher?

Er erblickt plötzlich im vernebelten Wald eine menschliche Gestalt gehen. Sie sieht aus, als ob sie einen Regenmantel mit Kapuze tragen würde. Und sie bückt sich alle paar Meter, bleibt kurz in der Hocke, steht dann wieder auf und spaziert einige Schritte weiter und bückt sich wieder und...

Er glaubt, dass ist bestimmt sein Nachbar, der noch immer eine geeignete Stelle suche. Und dieser dunkle Nebel verschleiere die Sicht so komisch, dass man meinen könne, man sähe einen Regenmantel. Deshalb lacht er nun kurz.

»Also, wenn er nicht bald zurück ist, säge ich selbst weiter», sagt der Lehrer vor sich hin und sägt tatsächlich kurze Zeit später weiter, ohne zu warten. Jetzt aber besser mit den Ohrschützern, welche ihnen leider fehlen! Als die seitlichen Kerben fertig sind, findet er den Stift und das Dreieck auf dem nassen Boden und zeichnet die weiteren Schnittstellen an den Stamm.

»Ein gruseliges Wetter ist das hier!«, ruft der Lehrer in den mittlerweile finsteren Wald, »Hallo! Hier arbeiten wir! Bei der Brücke! Hallo! Ich bin hier! Hier!« Aber niemand antwortet. Enttäuscht sägt er im Rest des Tageslichts wie geplant weiter. Der Baum soll ja heute unbedingt fallen!

Und gerade in dem Augenblick, als ihm einfällt, dass ja niemand mit dem Seil den Stamm in die passende Richtung zieht, kippt der Baumstamm einfach um. Nicht weg von der Brücke, sondern nach einer leichten Drehung so mitten auf das Geländer der Brücke. Ein lautes Krachen erschallt, das Geländer ist durchgebrochen und der obere Teil des Baumes ruht auf der Brücke.

»Ach, du Scheiße! Auch das noch!«, spricht den Lehrer von hinten eine ihm bekannte Stimme an.
»Mein Gott! Haben Sie mich jetzt erschreckt! Wo waren Sie denn die ganze Zeit, mein lieber Herr Nachbar?«
»Na, wo denn wohl! Nur kurz dort hinten bei den größten Büschen! Aber ich hatte plötzlich Durchfall und ausgerechnet dann – kam mir ein Pilzsammler näher. Um diese Jahreszeit! Und was sollte ich machen? Ich bemühte mich, starr in der Hocke zu verharren, und da hörte er wahrscheinlich meine saudummen Geräusche und kam neugierig noch näher. Glücklicherweise verschwand er doch endlich wieder. Und diesen Durchfall habe ich mit Sicherheit von dem Tee in meiner Thermoskanne!«
»Ihre Thermoskanne?«
»Ja, ich habe sie mit dem kleinen Rucksack mitgebracht, sofort ausgepackt und neben das Werkzeug abgestellt. Der Rucksack ist wieder auf meinem Rücken. Schon die ganze Zeit!«
»Ich habe Ihren Tee vor einiger Zeit gekostet und ich befürchte, ich muss jetzt auch ´mal rasch hinter irgendeinen Busch! Bis gleich!«

Und so eilt der erschrockene Lehrer im dunklen Nebel zwischen Bäumen hindurch in den Wald.
Währenddessen bestaunt der junge Ingenieur den gefällten Baum und das zerschlagene Geländer. Er greift sich den Hammer, um die beiden Teile des Geländers gänzlich zu entfernen, bevor sie in einigen Minuten nach Hause gehen werden, um erst mit bestem Wetter und gutem Tageslicht morgen oder so weiterzuarbeiten, denkt er.

Ein paar kurze, feste Schläge sind nötig und diese Balkenreste brechen ab – und die morsche Brücke, auf die er sich stellte, mit einem lauten Krachen durch. Der Ingenieur sitzt im dunklen Nebel in einem schlammigen Wasserloch neben den Holzteilen und schlägt wütend mit dem schweren Hammer seines Nachbarn auf den Boden des so dünnen Baches. Es spritzt und platscht ein wenig, bis der Hammer plötzlich –

– auf etwas Festes aufschlägt. Er wischt mit seinen schlammigen Händen daran herum und schlägt nicht mehr darauf ein. Ein rundlicher Gegenstand ist es. In der matschigen Erde wühlt er immer mehr umher und dann entpuppt sich ein menschlicher Schädel, den er beinahe zertrümmert hätte. Mitten unter der finsteren Brücke!

Oh Schreck! Gleichzeitig erschallen jetzt kurze Schreie aus dem schwarzen Wald. »Die Stimme seines älteren Nachbarn!«, augenblicklich weiß er das. Als Letztes hört er dessen langgezogenen Schrei. »Der Schrei des Todes!«, fährt es wie ein Blitz durch seinen Kopf, »Das kann nicht sein!«

Der junge Ingenieur klettert durchnässt aus dem Schlammloch unter der gebrochenen Brücke hervor. Den Schädel legt auf die Seite ab. Später würde er ihn... So ganz weiß er aber noch nicht, was er machen soll. Soll er im Wald suchen oder besser mit dem Handy die Polizei holen? Oder ist es besser, zuerst zu Hause seine wartende Frau anzurufen? Vielleicht auch beide zugleich? Dieser verflixte Nebel in der Dunkelheit! Wo ist denn sein Nachbar? Verdammt nochmal!

Eine Gestalt nähert sich ihm auf dem schmalen Weg im Waldrand. Ein Regenmantel mit der Kapuze! Jener Pilzsammler oder wer sonst!?
»Kann ich Ihnen helfen?«, spricht ihn dieser nette Mann aus dem Wald an. »Sie sind wohl mit dieser wundervoll hölzernen Brücke eingestürzt. Oder wollte Sie diese wunderschön gewachsene Fichte erschlagen? Sind Sie verletzt?«
»Nein, nein! Ich bin in den Bach gestürzt. Alles gut! Ich habe diese...«
Er bemerkt, dass dieser nette Mann aus dem Wald den Schädel am Boden kurz erblickte und schnell wieder zu ihm sieht.
»...abgesägt. Sie warf immer mehr Schatten in unseren Garten. Der Eigentümer hat es erlaubt. Ja, das Holz als bestes Brennholz bekommt er!«
»Der Besitzer dieses wundersamen Waldes bin ich. Kennen wir uns denn? Wie heißen Sie?«

Der junge Ingenieur zittert vor Kälte, während er sein Handy aus der Hosentasche zerrt.
»Sie zittern ja ganz schön. Ich helfe Ihnen!« Mit diesen freundlichen Worten greift sich der nette Mann aus dem Wald das Handy und steckt es ein. Und als sich seine Handschuhhand wieder aus der eigenen Jackentasche hervorhebt, hält sie etwas in die Höhe. Nach einem klickenden Knopfdruck ragt dem Zitternden eine Messerklinge entgegen.
»Damit können Sie sofort die kleinen Äste abschneiden. Oder soll diese tote Fichte über Nacht über der zerstörten Brücke liegen bleiben!? Das wollen Sie doch nicht, guter Freund! Oder?«
Der junge Mann übernimmt das Messer und antwortet nur: »Nein!«

»Eine so wundermächtige, hingerichtete Fichte muss man schnell beerdigen, sonst bricht das Schicksal ohne jegliche verlorene Minute über deren Mörder herein!«, lacht der nette Mann aus dem Wald und deutet mit seinem Arm und Finger auf den Schädel am Boden.

Er schwitzt vor Hitze und zittert vor Kälte und er – sticht zu. Er, der junge Ingenieur mit seiner wartenden Frau zu Hause – ganz in der Nähe.
Der nette Mann aus dem Wald weicht zurück und schreit, als ob sein Bauch eine Wunde erfuhr; er lässt sich langsam auf die Knie fallen und kriecht danach im Nebel ins nicht mehr sichtbare Gebüsch fort. Und er, der Täter?

Der junge Mann steht unzählige Sekunden lang ohnmächtig fest. Das leise Klatschen neben ihm verursacht sein Handy. Der nette Mann aus dem Wald warf es ihm doch noch zu. Seine Augen suchen diese Gestalt im dunklen Nebel, aber nur noch diesen Satz hört er aus dem Wald gerufen:
»Mit diesem Messer in deiner Hand hast du mich gerächt, denn zuvor hat er mein Leben mit seiner Säge vernichtet, du wunderbarer Mörder!«
Nichts fällt ihm dazu ein. Gar nichts.

Er dreht sich schweigend um, dorthin, wo sein schönes Haus, sein Garten in der Natur liegen müssten. Schritt um Schritt trägt ihn seine Natur mit letzter Kraft zur Tür. Er klingelt mit dem Messer in der Hand, lässt sich auf die gepflegte Treppe nieder und weint und schluchzt erbärmlich vor sich hin.

Nach nur wenigen Augenblicken scheint etwas mehr Licht auf ihn herab und seine Frau öffnet die Haustür mit den erstaunten Worten:
»Was ist denn mit dir passiert?«

»Ich traf – einen netten Mann – aus dem Wald!«

ENDE

Weitere Kurzgeschichten von diesem Autor: