Veröffentlicht: 05.11.2022. Rubrik: Nachdenkliches
Johann möchte mit dem Leben nichts zu tun haben
Seit Jeher standen Johann die Türen offen und dabei fast immer
Freunde zur Seite, um mit ihm gemeinsam hindurchzugehen.
Fast wie an einer unsichtbaren Leine gezogen,
schien man ihm anzubieten, sich durchs Leben führen zu lassen.
Selten war er gezwungen sich wirklich anzustrengen oder einmal ernsthaft etwas zu riskieren.
Johann setzte niemals alles auf weniger als drei Karten,
weil er nicht musste.
Und trotzdem war Johann kein glücklicher Mensch.
Es beschlich ihn oft die leise Hoffnung, jemand würde ihn von seiner Leine befreien oder ihm einmal eine Tür vor der Nase zuschlagen,
um ihm dafür endlich einen Grund zu geben.
Manchmal, wenn er durch den Park in seiner Stadt schlich,
übermannte ihn der Wunsch sich unter die nächstgelegene
Sitzbank zu kauern und unsichtbar zu werden für seine Mitmenschen.
Er dachte, vielleicht würden die Leute um ihn herum auf diese Weise endlichen erkennen, wie ohnmächtig und hilflos er sich in seinem Inneren fühlte.
In Momenten wie diesen machte er die Musik an
seinen Kopfhörern ein wenig lauter und konzentrierte sich
auf den Text der Lieder. „Materialize, or let the ashes fly",
diese Zeile aus einem seiner liebsten kam ihm dann häufig in den Sinn.
Es hinderte Johann nichts daran, ganze Abende damit zu verbringen,
sich selbst dabei zu beobachten,
wie eine winzige Version von ihm selbst in seinem Kopf gegen seine Gedanken in den Krieg zog.
In einem Moment fest entschlossen und zum Angriff bereit,
doch schon im nächsten Augenblick völlig entwaffnet und von den Besatzern seines Kopfes in die Ecke getrieben.
An dieses Muster hatte Johann sich gewöhnt.
Mehr als ein gelegentliches, leise hörbares Ausatmen durch die Nase konnte es seinem Körper als Reaktion nicht mehr entlocken.
Stand der tapfere Krieger in seinem Kopf allerdings Problemen oder Sorgen gegenüber, die Johann unmittelbar zu Entscheidungen zwangen,
im schlimmsten Fall zu solchen,
die Einfluss auf das Verhältnis zwischen ihm und seinen Mitmenschen nehmen würden, dann begann sein Herz zu rasen und ihm wurde schlecht.
Er hasste die Vorstellung, dass all die Dinge, die er tat und sagte und noch schlimmer, die Handlungen, die er vermied
und die Gedanken, die er sich nicht traute auszusprechen,
etwas in seinen Mitmenschen auslösten.
Diese Verantworte überforderte ihn.
Johann war es zur Gewohnheit geworden, im Anschluss an einen Abend, den er in Gesellschaft verbracht hatte,
aufzuwachen und jedes seiner Gespräche zu bereuen.
Er versuchte sie zu rekonstruieren und wälzte sich dabei unruhig in seinem Bett hin und her.
Fand er in einer Konversation einmal keinen Gedanken,
für dessen Aussprache er sich im Nachhinein eigenhändig Ohrfeigen wollte, begann er über Äußerungen nachzudenken,
die sein Gegenüber vielleicht missverstanden haben könnte und aufgrund derer ihn nun alle hassen würden.
Über die Zeit hatte Johann bemerkt, wie seine Angst davor,
sich angreifbar zu machen oder schlimmer noch, andere mit seinen Worten zu verletzen, dazu geführt hatte, dass er nur noch wenige seiner Gedanken und Gefühle mit seinem Umfeld teilte.
Streng hielt er auseinander, welchem Menschen aus seinem Freundes- oder Familienkreises er welche Informationen über sich preisgab.
Doch Menschen, die andere im Unklaren über das lassen,
wer sie von sich selbst glauben zu sein, die verlieren die Fähigkeit,
wirkliche Nähe zu ihnen zu spüren.
Sie stumpfen ab, fühlen sich nie als vollständiges Mitglied einer Gemeinschaft oder eines Teams, denn sie identifizieren sich nicht mit der Person, die sie in den Augen der anderen scheinen zu sein.
In seinen Augen gab es niemanden auf der Welt, der ihn wirklich kannte.
Johann wurde das an einem Tag im Sommer des letzten Jahres klar.
Schon eine Weile spürte er, wie er zunehmend die Bindung zu seiner eigenen Familie verlor.
Fast gleichgültig nahm er die Entfremdung zwischen ihnen und ihm zur Kenntnis.
Einmal jedoch, als Johann grade einmal wieder aufbrechen wollte zu einem seiner ziellosen, nächtlichen Streifzüge durch die Stadt, hörte er, wie seine Mutter hinter ihm in Tränen ausbrach.
„Ich kann das nicht mehr. Ich ertrage es nicht,
dich Jeden Tag so todtraurig vor dich hin treiben zu sehen. Sag mir bitte was mit dir nicht stimmt.“
„Ich weiss es nicht.“, antwortete er.
Aus irgendeinem Grund musste er dabei lächeln,
aber er log sie nicht an.
Schon häufig hatte er darüber nachgedacht, auf welchem Weg
diese große Leere in ihm wohl zu füllen war.
Oft gelangte er dabei schließlich an eine Feststellung, an der er sich bisher immer gezwungen hatte,
mit dem Denken aufzuhören.
„Ich möchte mit dem Leben nichts zu tun haben.“,
dachte er diesmal laut.
Für einen kurzen Moment fürchtete er es auch laut ausgesprochen zu haben, erkannte dann allerdings, dass seine Mutter den Flur ohnehin bereits verlassen hatte.
Dann überkam es auch Johann.
Minutenlang brach es aus ihm heraus.
Er musste an all die Stunden denken, die er schon damit verbracht,
hatte die hohe Decke in seinem Zimmer anzustarren.
Dann daran, dass ihm dabei zuletzt häufiger aufgefallen war,
dass er dabei fast immer Musik hörte,
wahrscheinlich um den Gedanken in seinem Kopf eine Pause zu gönnen.
Wenn er wirklich ehrlich zu sich war, musste Johann eingestehen, dass er schon lange keinen Gedanken gefasst hatte, der ihm von Bedeutung schien.
Von großer Bedeutung erschien ihm ohnehin schon lange nichts mehr zu sein.
Weil er deshalb immer anderen die Entscheidungen überließ, warfen ihm seine Freunde oft scherzhaft vor, der unkomplizierteste Mensch der Welt zu sein.
Johann empfand genau das Gegenteil.
Als er schließlich die Kontrolle über sich zurückgewann,
nahm er seine Mutter wahr, die er durch den Flur am Esstisch
sitzen sehen konnte.
Dort blickte sie stumm gegen die Wand, womöglich auf der Suche nach den Gründen dafür, weshalb ihr Sohn ihr nach und nach immer mehr entglitten war.
Johann wusste, dass diese Suche aussichtslos war.
Oft hatte er sich auf selbige begeben und anstatt Antworten zu finden, jedes Mal ein wenig mehr von sich selbst verloren.
Er griff nach seinen Kopfhörern und drückt auf seinem Handy auf Wiedergabe.
„Wouldn’t you like to know, how far you've got left to go?“
Dann zog er die Türe hinter sich zu.