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geschrieben 2025 von Frederic Nissen (Frederic).
Veröffentlicht: 11.04.2025. Rubrik: Nachdenkliches


Alte Männer

Alte Männer – ein Albtraum


Der alte Mann sieht sich selbst mit der Zeitung in den Händen. Wie lange ist es her?

Da versuchten einige, die Welt neu zu definieren. Ein Meerbusen wurde umbenannt, neue Baustile festgelegt. Zwei Millionen Menschen sollten umgesiedelt werden, ihre Heimat einen neuen Namen bekommen. Hunderte ohne Prozess in Massengefängnisse abgeschoben. Die Mächtigen regelten am Telefon, wer von dieser Erde was bekommen sollte. Alte Männer wollten an der Macht bleiben. Wer widersprach, starb im Gefängnis, an einer unbekannten Krankheit. Die Menschen lernten zu schweigen. Wandel durch kriegerische Händel.

Er sieht sie vor sich, Filmausschnitte, die er zigmal gesehen hat. Ostpreußen 1944, Pommern und Schlesien 1945. Frauen und Kinder auf Leiterwagen. Davor ein müder, kriegsuntauglicher Gaul. Die ebenso untauglichen alten Männer laufen nebenher. Der Weg über das offene Feld ist vereist, Schnee zu beiden Seiten. Lumpen um die Köpfe und die Füße. Millionen fliehen aus ihrer Heimat. Die Sieger hatten ein Land aufgeteilt. Die aus dem Osten bekommen etwas mehr von der Erde, dafür müssen die Verlierer etwas abgeben. Menschen werden verschoben, von Ost nach West. Eineinhalb Millionen Polen zwangsumgesiedelt, aus dem Osten in den Westen. Die dort leben, müssen Platz machen. Die Verlierer rücken zusammen auf das Gebiet westlich von Oder und Neiße. Es wird ihnen dringend empfohlen, diese neue Grenze anzuerkennen. Wer verloren hat, hat nichts zu melden. Erst recht nicht, wenn er den Krieg vom Zaun gebrochen und Millionen Menschen ermordet hat. Diese Ohnmacht ist gerechtfertigt. Man wird sich nicht beklagen wollen, für Jahrzehnte nicht.

Von diesen Trecks aus dem Osten in den Westen wird noch lange erzählt. Von den Tieffliegern, die plötzlich auftauchten und mit ihren Maschinengewehren durch die Menge mähten. Von den erfrorenen oder verhungerten Kindern, die in die Straßengräben geworfen wurden. Von der Angst vor den Siegern aus dem Osten, über die man sich nichts Gutes erzählte. Diese Angst trieb sie vorwärts und der Anspruch der vertriebenen Polen auf eine neue Heimat in neuen Grenzen.

Sie ziehen stumm nach Westen. Das Schweigen hatten sie gelernt in den letzten Jahren. Es war gefährlich geworden, zu sagen, was man dachte, wenn es etwas anderes war, als man denken sollte. Da hatte einer die Welt neu definiert. Die Länder im Osten wurden zu notwendigem Lebensraum für das eigene Volk. Das eigene Volk definierte sich nicht mehr durch die Staatsangehörigkeit, sondern als eine imaginäre Rasse. Wer politisch anders dachte, war geisteskrank. Wer geisteskrank war, sollte getötet werden, um der Reinheit der Rasse willen. Wer in diesen Zeiten schwieg, lebte länger.

So zogen sie nach Westen, nicht in ein gelobtes Land, aber hoffentlich ein freieres als das im Osten und das in der Vergangenheit. Sein Vater zog auch, alleine mit einem Kind. Er war Flüchtling und so wurde er auch behandelt. Beim Bauern in Bayern ging es ihm wie dem verlorenen Sohn als Schweinehirten. Wer hörte schon gerne Schlesisch, wenn ein anständiger Mensch Bayerisch sprach. Auf die Gnade anderer angewiesen zu sein, ist ein unsicherer Stand.

Er schlug sich durch, um seinetwillen und um seines Kindes willen, das er mitgenommen hatte, denn die Frau war mit einem anderen davongegangen. Das war schon eine Weile her.

Wie in einem Film auch das: Zwanzig Jahre später steht der Vater vor der Garage des Reihenhauses. Neben ihm seine beiden jungen Söhne, Kinder einer anderen Frau aus dem anderen Teil Deutschlands. Der erste Sohn fährt derweil zur See. Der Vater öffnet das Garagentor, eine schwere Konstruktion, die sich gerne verhakt. Drinnen steht nicht der Ford Taunus, der ist auf der Straße geparkt. Das Garagentor gibt zwei Fahrräder frei, solche, wie die Söhne es sich gewünscht haben, wie man sie sich damals gewünscht hat, wenn man neun und zehn Jahre alt gewesen ist.

Der Vater hat es geschafft, ein neues Leben aus den Trümmern, trotz der Trümmer. Eine neue Familie mit weiteren Kindern. Eine gute Stellung und seit Kurzem auch ein Haus. Seine Witwe wird noch daran abbezahlen müssen, aber es ist ein eigenes Haus, wenn auch am Ende einer Reihe und mit Wänden hellhörig wie Papier. Dafür hat er gearbeitet, von morgens um sechs bis abends um fünf, von Montag bis Samstag.

Der Vater erzählte wenig von damals, als die Welt neu definiert worden war, als er fliehen musste, als er gedemütigt wurde. Seine Kinder sollten es besser haben und sie hatten es besser. Er war nicht fromm, aber er betete darum, dass seine kleinen Söhne nie das erleben müssten, was ihr großer Bruder und ihr Vater erleben mussten.

Er ist noch einmal zurückgekehrt, der alte Mann. Die Straßenbahn gibt es schon lange nicht mehr. Aber auch die Busse fahren nicht. Die meisten sind im Depot verbrannt, als in einer jener Nächte fünf Drohnen gleichzeitig Brandbomben abwarfen. Also muss er zu Fuß gehen, wie schon manches Mal früher, wenn es zu spät geworden war und kein Bus und keine Bahn mehr fuhren. Dann hieß es, die zwei Kilometer den steilen Berg hinauflaufen. Kein Problem für einen Jugendlichen von siebzehn Jahren. Für einen Mann Ende sechzig schon eher.

Der alte Mann schafft es, wenn auch mit einigen Pausen. Eine erste irgendwo auf der Straße, eine zweite an der großen Kreuzung, eine letzte vor dem letzten Anstieg. Ein Weg voller Erinnerungen. Da hat die erste Freundin gewohnt, Freundschaft mit In-den-Arm-nehmen, nur ein paar Wochen, sie war noch so jung und es war ihr unangenehm. Dort mit dem Klassenkameraden auf dessen Kreidler Florett den Berg hochgefahren. Die Maschine schaffte es kaum, der Motor zu schwach, der Berg zu steil, der Mitfahrer zu schwer. Nur einmal hat ihn der Freund mitgenommen. Sein Moped war ihm zu schade für ein weiteres Mal.

Dort war früher ein Friseur gewesen. Jedes Mal tat es weh, ein Dilettant, der Figaro. Aber die Mutter schleppte die Jungs regelmäßig hin zu ihm. In dem Gasthof gegenüber hatten sie sich zum 20-jährigen Abiturjubiläum getroffen. Lange nicht alle waren gekommen. Einige hatten die Vergangenheit vergessen. Dort war eine Haltestelle gewesen. Bequem zum Einsteigen. Man musste nur den Berg hinunterlaufen. Unbequem nach dem Aussteigen, dann lagen noch dreihundert steile Meter vor dem müden Schüler.

Es sieht fast so aus wie früher. Diesen Teil der Stadt haben sie verschont. Keine kritische Infrastruktur, nur Wohngebäude, die meisten nicht mehr als vier Stockwerke. Keine lohnenden Ziele. Die Hochhäuser weiter westlich wurden alle getroffen. Die Universität: nur noch schwarze Betonskelette.

Er geht weiter, die letzten steilen dreihundert Meter. Alle Bäume verbrannt, Baumruinen zwischen Häuserruinen. Hier haben sie zugeschlagen. Kein Wunder, dieses Viertel grenzt an die Autobahn und an Kasernengelände. Wo einst die Kasernen waren, nur noch Schutthaufen. Keine Straße zu erkennen. Keine verrotteten Panzer, wie er erwartet hat. Nur Schutt.

Links hinein in die Straße seiner Jugend. Hier hatten sie gespielt, auf dem Gehweg, auf der Fahrbahn im Schutz der Sackgasse, die nur von Bewohnern, Lieferanten und dem Müllwagen befahren wurde.

Die Reihenhäuser zu beiden Seiten ohne Dächer, ohne Fenster oder Türen, schwarz verrußt. Mauergerippe. Die Garagentore von der Hitze verbogen, der Teer auf ihren Flachdächern verbrannt.

Dort, wo die zweite Reihe mit acht Häusern beginnt, wenige Meter höher gesetzt als die ersten, sein Elternhaus. Er geht die Treppen zum Eingang hinauf. Durch das Eingangsloch kann er hinauf ins Wohnzimmer sehen und in den Garten. Die uralte Buche, älter als die Republik, in der er aufgewachsen war, nur noch ein Stumpf. Das eiserne Schaukelgerüst zerschmolzen. Dahinter der blaue Himmel und die Sonne, die alles hatte mit ansehen müssen.

Da vorn im Eingang sieht er ihn stehen, den alten Mann mit dem dicken Bauch, der jünger war, als er es selbst jetzt ist. Seine graue Jacke, die Hosenträger, die bequeme Hose, das karierte Hemd, der Schnauzer, die glatt nach hinten gekämmten Haare. Da sieht er ihn, den Mann, der all dies auf seine Weise auch erlebt hatte. Zum Glück kein zweites Mal, denn er ist schon bald vierzig Jahre tot.

Der alte Mann sieht ihn an. In seinem Blick liegt Bedauern. Genau das hatte er nicht gewollt, dass sein Sohn erleben musste, was er hat durchstehen müssen. Er hatte gehofft, dass seine Generation die letzte in dem Land gewesen sei, die das erleben musste, was man Krieg nennt, ein Wort, das nicht im leisesten anklingen lässt, was es bedeutet.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Bad Letters am 12.04.2025:

Sehr bedrückend beschrieben Frederic und ja, das Wort Krieg entfacht wohl erst sein zerstörerische Wirkung, wenn man ihn hautnah miterleben muss.

MfG
Bad Letters




geschrieben von Ofelia am 14.04.2025:

Im Laufe der Historie, scheint der Krieg die Unterschrift der Menschheit zu sein.
Ein Historiker hat jemals berechnet, dass in den letzten 5000 Jahren, der sogenannte König der Schöpfung nur 100 Jahre Friede mitgemacht hat.
Die restlichen 4900 Jahre haben wir andauernd gegen einander gekämpft.
Der Mensch ist der einzige der Krieg führt.
Die Menschheit ist die einzige Rasse die sich selbst nicht liebt.
Kraftvolle Erzählung.

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