Veröffentlicht: 28.03.2025. Rubrik: Menschliches
Die Suche
Er schaute auf den Platz vor seinem Hotel. Auf einer der Bänke saß eine alte Frau, einen Yorkshire auf dem Schoß. Das Mädchen auf der Bank ihr gegenüber müsste schon in der Schule sein, doch ihr zerrissener Rucksack ruhte sich noch aus. Zwei glatte graue Anzüge eilten quer über den Platz und verschwanden in der Glasfront schräg gegenüber. Ein Kleinwagen suchte einen Parkplatz. Ein orangefarbener Kleintransporter fuhr auf einen der Sandwege, einer stieg aus dem Führerhaus, nahm den Schlauch des Tanks auf der Ladefläche und ließ Wasser auf die Blumenrabatten laufen, der Rauch seiner Zigarette verlor sich zwischen den Blättern eines Ahornbaumes.
Bertram ließ sich Kaffee nachschenken. Er umriss den Platz mit seinem Blick. Die Symmetrie war eine scheinbare, gebrochen, nicht durchgehalten, mehr gewollt als erreicht, gestört von den Straßenbahnschienen, die auf der gegenüberliegenden Seite durch den Rasen liefen, stahlgraue schnurgerade Linien, die dem Platz seine Unschuld nahmen. Auf der einen Seite der Brunnen mit der vielgliedrigen Figur gegenüber der Glasfront der Sparkasse und der schmalen geschwungenen haushohen Säule in seiner Nähe, am anderen Ende des Platzes ein runder niedriger Pavillon mit Kaffeehausstühlen davor, von denen noch keiner besetzt war. Ein Gemenge aus verschiedenen Stilen, Menschen, Natur und Technik.
In dieser Stadt also würde sie wohnen. Das Taxi hatte ihn in der vergangenen Nacht vom ICE-Bahnhof über den Rhein zum Hotel gefahren. Auf der Brücke waren sie von seinem silbergrauen Zug begleitet worden, der weiter nach Paris fuhr. Eine Straßenbahn war ihnen entgegengekommen und die Lichter der Stadt hatten ihn begrüßt. Kein Schiff fuhr um diese Zeit auf dem Rhein, aber der Widerschein kilometerlanger Rohrleitungen, hoher Schlote und einer grellen Fackel zusammen mit den beiden erleuchteten Kirchen über den Häusern ließen ihn eine lebendige Stadt erwarten. Es war zu spät gewesen, um sich noch umzuschauen, Zeit genug für ein Bier an der Bar, den Blick ins Telefonbuch und einige Seiten in dem zerfledderten Stadtführer, den man ihm an der Rezeption geliehen hatte.
Sein erster Gang würde heute Morgen der zum Rathaus sein, ein Gebäude aus Stahl und Glas, das alles überragte, was in dieser jungen Stadt schon ein wenig den Hauch von Geschichte hatte. Wie in Straßburg würde er nach ihr fragen. Es würde ihn einiges an Überzeugungskraft kosten, ein berechtigtes Interesse an einer Auskunft des Einwohnermeldeamtes nachzuweisen. Aber Verhandeln war sein Beruf gewesen, und er war selten erfolglos geblieben. Vor den Diskussionen mit der Sachbearbeiterin oder ihrem Vorgesetzten war ihm weniger Angst als vor der Antwort, die er schließlich erhalten würde. Da, wo ihr Name im Telefonbuch eigentlich stehen müsste, fehlte eine Zeile. Wohnte sie doch nicht in dieser Stadt, wie es die ältere Frau, die mit ihr zusammen gearbeitet hatte, behauptete? Hatte sie inzwischen einen anderen Familiennamen? Ein Gedanke, der ihm einen kleinen Stich versetzte.
Eine Straßenbahn zerschnitt die Rasenfläche. Er holte sich noch ein Glas Orangensaft und las in der Zeitung über einen neuen S-Bahnhof und Leerstände in der Innenstadt. Er war in seiner Suche eine Stadt weiter gekommen und hatte das Gefühl, bis jetzt nicht am Ziel zu sein. Über dreißig Jahre war es immer vorwärtsgegangen, und er war der geworden, der er einmal werden wollte. Er musste sich nicht fragen, was er sich leisten konnte, bevor er Geld ausgab. Er fragte sich nur manchmal, ob es wirklich noch nötig war, nicht selten war es überdrüssig. In seiner Stadt kannte man ihn, achtete ihn, umwarb ihn, empfand es als Ehre, wenn er eine Einladung annahm. Er war der geworden, der er einmal werden wollte. Aber er war sich nicht sicher, ob er der geworden war, der er hätte werden sollen. Unter das feste Wissen darum, alles im Griff zu haben, hatte sich in den vergangenen Jahren immer wieder das Gefühl gemischt, sich selbst zu verlieren.
Er hatte sich auf die Suche gemacht, war in seine Geburtsstadt gefahren, in die Stadt seiner Kindheit, hatte die Wohnung gesucht, die seine Eltern damals gemietet hatten, seinen Kindergarten, die Grundschule, die es nicht mehr gab, sein Gymnasium, das umgezogen war, hatte dort nach seinen Spuren gesucht, wo er doch nie welche zurückgelassen hatte, Klassenkameraden besucht, die ihm immer noch in derselben eigentümlichen Weise nahe und fremd waren wie damals, und war in der Erinnerung auf die Frau gestoßen, mit der er vielleicht hätte leben wollen, mit der er aber nicht hatte leben können, die ihm so nahe war, die jedoch doch ganz andere Wege gehen wollte, als er zu gehen sich vorgenommen hatte.
Als er aus dem Rathaus kam, hatte er einen Zettel und einen Stadtplan in der Hand. Die Stadt war inzwischen von dem Leben erfüllt, das er erwartet hatte. Hinter ihm öffnete sich die Einkaufspassage wie das Tor zu einem Zirkus der Illusionen, vor ihm lag eine lange breite Straße der Cafés, tütentragender Menschen, Kinderwagen, umschlungener Pärchen, lustloser verbogener Alter. Er wollte sich die Stadt ein wenig anschauen, in der sie fast zehn Jahre gelebt hatte. Ob sie heute in der anderen Stadt lebte, die man ihm genannt hatte, weiter den Rhein hinab? Jetzt wollte er etwas von der Stadt sehen, die ein Teil ihres Lebens gewesen war.
Auf dem Zettel stand die Adresse des Hauses, in dem sie gewohnt hatte. Man hatte ihm erklärt, wie er dahin käme, zu Fuß, mit der Straßenbahn, am einfachsten mit dem Taxi. Aber er wollte es nicht einfach, er wollte etwas sehen und riechen. Sehen, was sie gesehen hat, riechen, was sie gerochen hat. Er ging die Fußgängerzone hinunter, zehn Rosen für drei Euro, ein Friseur im ersten Obergeschoss, drei Frauen an dem Tisch der Eisdiele, die über ihren Chef zu lästern schienen, ein ärmelloses T-Shirt mit muskulösen Oberarmen und dumpfem Gesichtsausdruck, drei Millionen im Lottojackpot, Duft von den Stehtischen vor dem Kaffeegeschäft, ein Restposten Bildbände über die Toskana neben einer Sommersonderausgabe von Ferienkrimis im Paperback, dunkle Kopftücher der Muslimas, ein Sonderangebot an City-Hemden vor dem Kaufhaus, vier polnischen Saisonarbeiter mit Broten und Wurstdosen in Plastiktüten, ein Bauchnabelpiercing zwischen einer engen Jeans und einem knappen Bustier, ein Mountainbiker auf einem Brunnen, vor einem Handygeschäft ein hagerer graubärtige Mann auf einem Küchenstuhl mit einer Kaffeetasse und einer Gitarre, zwei biertrinkende Wichtigtuer in einem Straßencafé. Eine Stadt wie andere auch, die Menschen vielleicht ein wenig einfacher, ein wenig bunter gemischt in den Nationalitäten, ein wenig weniger selbstsicher, ein wenig offener, ein wenig unfertiger, ein wenig mehr ins Leben geworfen. Hatte ihr das an dieser Stadt gefallen?
Der Kirchturm am Ende der Straße, in die er einbog, hatte sein Schiff verloren, weggebombt in dem Krieg, der große Teile der Stadt zerstört hatte. Er saß unter einem der blauen Sonnenschirme des Cafés, das sich in die Ruine eingenistet hatte, und schaute auf die Gedenktafel an der rohen Mauer. Eine Stadt zerbombt in einer Nacht. Neben ihm floss Wasser aus einem Kreuz den Platz entlang zu einem Brunnen. Kinder spielten im Wasser, junge Leute diskutierten ihre Vorlesung, ein Alter teilte seine Weinschorle mit dem Sonnenlicht.
In solch einem Café hatten sie gesessen, als sie sich das letzte Mal sahen, als sie ihm mit einer erbarmungslosen Ruhe mitteilte, dass sich ihre Wege trennen würden, weil sie sich trennen müssten, dass sie nicht mitginge nach Hamburg, dass sie weiter in jener Stadt bleiben wolle, um mit jenen Kindern und jenen Kolleginnen und Kollegen zusammenzuarbeiten, mit denen sie dort seit zwei Jahren zusammenarbeitete. Dass sie Verständnis habe für seinen Wunsch, die neue Stelle anzunehmen, dass es wirklich ein großer Karriereschritt sei, der ihn fast tausend Kilometer wegführen würde. Dass sie es sich lange überlegt habe, ob sie ihre Beziehung nicht auch über diese Entfernung hinweg aufrechterhalten könnten, dass sie aber, und nun wurde die Ruhe, mit der sie es sagte, verletzend, für besser hielte, eine Beziehung zu beenden, als zuzuschauen, wie sie zerbricht.
An jenem Tag hatte er Angst, eine zweifache Angst, die ihn fast zerriss. Er hatte Angst, diese Frau zu verlieren, die an einem Teil seines Selbst wie festgewachsen war, und er hatte Angst, in die Karrierefalle zu geraten, schon an der Endstation angekommen zu sein, nicht das zu erreichen, was er erreichen wollte, was er meinte, erreichen zu müssen.
Die eine Angst war stärker gewesen als die andere, und er hatte das Angebot in Hamburg angenommen, hatte noch ein oder zweimal mit ihr telefoniert, hatte sich in die Arbeit gestürzt, bis zu jenem Tag vor zwei Monaten, als er beschloss, sein Leben noch einmal von vorn aufzurollen.
Er bezahlte seinen Eiskaffee und machte sich auf den Weg, den ihm der Stadtplan vorgab. Er kam an einem Museum vorbei und einem Theater, folgte der Straße mit den Straßenbahnschienen, über denen in der Hitze die Sonne flirrte, tauchte in die Unterführung ein und folgte der schmalen Straße mit den türkischen Gemüseläden, den zwischen den parkenden Autos spielenden Kindern, durchquerte die unter der schneidenden Sonne leidende und doch von ihr lebende Grünfläche und bog in die Straße ein, in der das Haus stehen musste.
Er hatte gehofft, ihren Namen auf dem Klingelbrett zu finden, und wusste doch, dass er ihn nicht finden konnte. Er drückte auf einen Knopf mit einem Namen, der ihm bekannt vorkam, der ein vages Gefühl von Nähe in aller Fremdheit in ihm auslöste. Der Türöffner summte, er trat in den dämmerigen Flur, folgte ihm an den Briefkästen entlang zur Treppe und begann sie hinaufzusteigen, ohne zu wissen, in welches Stockwerk er eigentlich musste. Er würde so lange gehen, bis er eine geöffnete Wohnungstür sehen würde.
„Hat Ihnen der Kaffee geschmeckt, junger Mann?“ Die Alte räumte die beiden Tassen und die Milch vom Tisch. Sie stellte sie auf das Abtropfblech neben dem Spülbecken, nahm einen Wischlappen in die Hand und fuhr über das Wachstuch des Esstisches. Sie schob die Zeitung zusammen, nahm den kleinen Strauß Bartnelken von der Anrichte und stellte die Vase mitten auf den Tisch.
„So, die Evi Böhn suchen sie also. Da kommen sie aber einige Jahre zu spät. Die wohnt schon lange nicht mehr hier. Möchten Sie ein Glas Wasser?“ Er nickte. Sie stand wieder auf, nahm zwei Gläser aus dem Schrank, ging zum Wasserhahn, füllte sie und stellte eines vor ihm hin.
Er hatte die Wohnung nicht betreten wollen. Er empfand die alte Frau ein wenig abstoßend, mit ihrer verwaschenen Kittelschürze und den fleischigen Oberarmen, den in der Hitze des Tages verschwitzten grauen Haaren, denen nur noch in den Spitzen ein Rest von Dauerwelle geblieben war. Aber sie hatte ihn angeschaut und nur gesagt: „Kommen Sie erst einmal herein, junger Mann!“
Junger Mann hatte schon lange niemand mehr zu ihm gesagt. Er war kein junger Mann mehr, wenn auch sicher zwanzig Jahre jünger als die Frau, die in der geöffneten Wohnungstür im zweiten Stock stand.
Er war ihr durch den schmalen, dämmerigen Flur der kleinen Wohnung gefolgt, hatte sich an der Garderobe und dem Schuhschrank mit dem Telefon darauf vorbei gezwängt, konnte beim Vorbeigehen einen Blick in das verdunkelte Wohnzimmer mit dem verschlissenen Sessel und dem Fernsehapparat werfen und hatte sich auf den Küchenstuhl gesetzt, den die Alte ihm gewiesen hatte. Ihre Frage, ob er eine Tasse Kaffee trinken wolle, hatte mehr als ein Befehl, denn wie ein Angebot geklungen, und er hatte selbstverständlich nicht abgelehnt.
„Die Frau Böhn hat auch immer auf dem Stuhl gesessen, auf dem Sie jetzt sitzen, wenn sie mich besucht hat. Dann hat sie da gesessen und mir von den Kindern erzählt und von den Kolleginnen und Kollegen, wie gerne sie ihre Arbeit machte. Ich glaube, sie war eine gute Lehrerin.“ Die alte Frau stand auf und ging an ihren Küchenschrank, öffnete die Milchglastür, stöberte in einigen Papieren und kam mit einem Foto in der Hand zurück.
„Wissen Sie, dass sie vorher in Straßburg gearbeitet hat?“ Er nickte. „Sie hat den Kindern von den Diplomaten Deutsch beigebracht, hat sie immer gesagt.“ Sie schaute auf das Photo. „Eines Tages ist sie dann zu mir gekommen und hat gesagt: Frau Zipp, am Ende dieses Schuljahres höre ich hier in Ludwigshafen auf. Ich habe sie gefragt: Warum? Ich kann es Ihnen nicht genau sagen, hat sie geantwortet. Ist es wegen ihm, hab’ ich sie dann gefragt, aber sie hat nicht geantwortet.“
Sie legte ihm das Bild hin. Er erkannte sie. Sie war älter geworden, aber sie war immer noch sie. Auf dem Foto wirkte sie nicht so zerbrechlich wie damals, als sie zusammen gewesen waren. Aber ihre Augen sagten noch genau dasselbe und stellten ihm dieselbe Frage.
„Wir waren fast fünfzig Jahre verheiratet“, fuhr die alte Frau fort. „Ich war Schneiderin, er war Buchhalter. Als er die Stelle bei der BASF bekam, sind wir nach Ludwigshafen gezogen. Aber eine Schneiderin brauchten sie hier nicht. In Würzburg hatte ich eine gute Stelle gehabt, ich hatte fünf andere Schneiderinnen unter mir. Und Kinder bekamen wir auch keine. Ich habe Sachen für mich genäht, auch für ihn, manchmal für Nachbarn, später nur noch ausgebessert. Zerrissenes wieder zusammengenäht. Ich habe mich um die kleine Wohnung gekümmert, hab’ in der Kirchengemeinde geholfen, habe auf ihn gewartet und ihm und mir das Essen gekocht.“
„Waren Sie glücklich?“ Er wunderte sich über seine Frage.
„Manchmal, ja. Oft sogar. Und oft habe ich geheult, alleine in meinen vier Wänden, wenn er bei der Arbeit war, keine Kinder da und niemand, der eine Schneiderin brauchte.“
Sie schaute ihn an: „Sie sind auch älter geworden. Natürlich. Sie hat sie mir anders beschrieben. Sie hat oft von dem träumenden Blick in den Augen des jungen Mannes gesprochen. Weit weg sollen Sie gezogen sein. Nach Hamburg war es, oder?“
Er nickte unmerklich.
„Wissen Sie, dass sie ein paar Mal versucht hat, eine Stelle in Hamburg zu bekommen. Aber die wollten keine Lehrerin aus einem anderen Bundesland übernehmen.“
Er schüttelte den Kopf. „Wissen Sie, wo sie jetzt ist?“
„Sie ist nach Köln gezogen. Warum nach Köln habe ich sie gefragt. Das ist weiter im Norden, hat sie geantwortet. Wir haben dann noch ein paar Mal telefoniert. Aber das ist auch schon lange her.“
Als er wieder in seinem Hotelzimmer war, stellte er sich vor den Spiegel. Er wurde nicht jünger unter seinen Blicken. Morgen würde er sich wieder auf den Weg machen.

