Veröffentlicht: 31.05.2019. Rubrik: Nachdenkliches
Hoffnung
Nass. Dieses Gefühl hat sie nun schon seit Stunden. Immer wieder. Eindringlich. Alles andere überlagernd. Langsam lehnt sie sich an ihre Mutter. Diese leicht anstupsend, zieht ihre Mutter sie nah an sich heran. Immer näher. Und trotzdem bleibt dieses Gefühl der Nässe. Und doch schweifen ihre Gedanken immer wieder in die Ferne. Vor allem zu der Wiese hinter ihrem Haus. Wie oft hat sie dort gespielt. Getobt. Getollt. Doch in letzter Zeit ist das weniger geworden. Plötzlich hat sie wieder das Bild vor Augen. Das Bild von Papa. Ein großer Mann mit langen schwarzen Haaren und diesen großen braunen Augen. Gerne denkt sie an ihn. Sie vermisst ihn. Doch ihre Gedanken schweifen weiter, immer weiter. Sie hatte eine schöne Kindheit. Eine ihrer besten Freundinnen wohnte direkt nebenan. Jeden Morgen gingen sie zusammen in die Schule und am Nachmittag wieder zurück. Und da ist sie wieder. Die Wiese in ihren Gedanken. Wie oft haben sie an den Nachmittagen dort gespeilt, geredet, gelacht. Leichtigkeit verspürt sie. Und doch mischt sich auch Wehmut in ihre Gedanken. Instinktiv kuschelt sie sich näher an ihre Mutter. Versucht sie möglichst weit mit ihren Armen zu umschließen. Liebevoll, aber erschöpft legt die Mutter eine Hand auf ihr Gesicht und lächelt ihr müde zu. In diesen Momenten vergisst sie häufig alles um sich herum. Nur sie und ihre Mutter sind dann wichtig. Alles andere gerät in Vergessenheit. So auch jetzt. Doch wieder spürt sie diese Nässe am ganzen Körper und beginnt leicht zu zittern. Ihr Vater hätte bestimmt einen Ausweg gewusst. Sie weiß, dass ihre Mutter nicht gern darüber spricht, beißt sich also leicht auf die Zunge und spricht es nicht wieder an. Und doch glaubt sie zutiefst daran. Ihr Vater hatte schließlich immer eine Lösung gehabt. Einmal, sie muss noch sehr klein gewesen sein, war sie in einen kleinen Brunnen gefallen. Sie weiß noch wie sie sich gefürchtet hatte. Auch damals hatte sie schon dieses nasse Gefühl gespürt, als sie knietief in dem Wasser stand. Doch schon nach kurzer Zeit war ihr Vater da gewesen. Und schon hatte sie sich beruhigt. Sie wusste, dass er es irgendwie schaffen würde. Und so war es ja auch gewesen. Er hatte sie gerettet. Mal wieder. Ihr Held. Und wieder blickt sie wehmütig in die Weite und versucht ihre Gedanken neu zu ordnen. Was würde jetzt wohl werden? Wie würde es weitergehen. Viele Fragen schwirren in ihrem Kopf umher. Und als würde ihre Mutter all das spüren legt sie behutsam ihren Arm um die Schulter ihrer Tochter. Auch sie weiß schließlich keine Antwort auf die Fragen ihrer Tochter. Aber sie ist sich sicher, dass sie es schaffen werden. Ja, schaffen müssen. Und gerade als beide so eng umschlungen ihren eigenen düsteren Gedanken nachhängen lugt plötzlich die Sonne durch eine Wolke hindurch. Fast gierig nach der Wärme, reckt sie sich in die Höhe, der Sonne entgegen. So gut tun diese wenigen Sonnenstrahlen auf ihrer Wange, die sie doch sofort wieder an ihre Heimat erinnern. War es doch immer so schön warm dort. Teilweise schien die Sonne so hell, dass die Häuser sie so sehr reflektierten, dass man kaum zwischen ihnen hergehen konnte. Schweißtreibend war es teilweise gewesen, dass Wasser von dem kleinen Brunnen mit dessen Boden sie ja schon näheren Kontakt hatte, in ihr Haus zu tragen. Und doch vermisst sie nun ihre Heimat. Eine Heimat, die sie vielleicht nie wieder sehen wird. Nie wieder. Nie wieder die Wiese mit den vielen Blumen und den bekannten ausgetretenen Pfaden. Nie wieder mit ihrer Freundin zur Schule laufen. Traurig stimmt sie das. Auch wenn ihre Mutter ihr natürlich lange erklärt hat, dass es nun mal nicht anders geht. Und dann muss sie wieder an ihren Vater denken. Hätte er keine andere Möglichkeit gefunden? Er hatte doch immer eine Lösung gefunden und sei es für noch so große Probleme gewesen. Doch all das wurde so plötzlich zerstört und nur deswegen war sie jetzt hier, dass wusste sie. Sie hatte gerade auf der Wiese gespielt, da hörte sie einen ohrenbetäubenden Knall. Schnell stiegen Flammen von ihrem Haus empor. Als sie darauf zu lief, sah sie ihn. Ihren Vater. Die langen Haaren teilweise zerzaust, teilweise ausgerissen, teilweise verbrannt. Was sie aber nicht vergessen kann, sind seine Augen. Seine großen braunen Augen, die sie leblos anschauten. Plötzlich kam ihre Mutter auf sie zu gerannt, schnappte sie und lief mit ihr in die nächstgelegene kleine Stadt. Dort wohnten Verwandte. Doch auch sie hatten nichts und konnten sie nicht lange aufnehmen. Sie rieten also dazu mit den anderen den gleichen Weg zu versuchen. Und so mussten sie weiter. Deswegen war sie jetzt hier, dass wusste sie. Die ganzen Umstände verstand sie nicht genau. Sie wusste nicht genau, warum jemand ihr Haus zerstört hatte. Sie wusste nur, dass sie noch lebt. Darüber hinaus konnte sie nur hoffen. Und so war es gekommen, dass sie nach Monaten der beschwerlichen Reise jetzt dicht gedrängt, nass in einem kleinen Boot Richtung Europa schwamm. Was genau dieses Europa ist, weiß sie auch nicht so genau. Aber nach den Erzählungen, muss es das Paradies sein.