Veröffentlicht: 16.04.2025. Rubrik: Aktionen
*Eine Mär, erzählt von meinem Opa /{April-Aktion 2025}
Ein Märchen fällt mir ein, das mir mein Großvater erzählt hat. Nur ein einziges hat er gewusst, das ich mir jedoch immer wieder erzählen ließ, weil es so schaurig war.
In einem weiten Land spielt es, im hohen Norden, wo es einsame Gutshäuser gab inmitten von tiefen Wäldern, weitab von jeder Ansiedlung. Ganz ähnlich wie bei Dr. Schiwago, der im tiefen Winter nach Warykino kommt, schwebt es mir vor, in genau so einem eiskalten, schneegeschwängerten Winter. Es war wohl schon gegen Abend, als ein ehrenwerter Gutsherr anspannen ließ. Zwingend notwendig musste er in die entfernte Stadt, unbedingt, kutschiert von seinem treuesten Diener.
Mitten im Gehölz trafen sie auf ein gefährliches, völlig ausgehungertes Wolfsrudel. Die Wölfe schlichen sich an. Heulend und knurrend näherten sich dem Einspänner mit dem schnaubenden, dampfenden Ross, erst zögerlich vorsichtig, dann griffen sie an. Das Pferd konnten die zwei Insassen nicht drangeben, unmöglich, denn ohne Gespann, ohne das Kaltblut, wären sie verloren gewesen. Die Bedrängnis der beiden, miteinander gut vertrauten Männer wurde immer schlimmer, sie wussten sich keinen Ausweg mehr. Da drückte der Diener seinem Herrn unvermittelt die Zügel in die Hand, verbat sich jegliche Widerrede, sprang beherzt aus dem Wagen, um sich den Wölfen zum Fraß vorzuwerfen, aus freien Stücken, um seinen Herrn zu retten.
An dieser Stelle hatte mein Opa dann immer Tränen in den Augen, die seine Stimme kurzzeitig erstickten. So sehr rührte ihn seine Mär von der unerschütterlichen Ergebenheit des treuen Dieners.
Mich dagegen hat diese Mär jedesmal traurig gestimmt, und ich habe versucht, meinen Opa zu einem anderen, in meinen Augen guten Ende zu überreden. Aber erfolglos. Diese letzte Heldentat des treuen Dieners hatte es ihm zeitlebens angetan.

