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4xhab ich gern gelesen
geschrieben 2025 von Lucy Milena (Lucy Milena).
Veröffentlicht: 12.03.2025. Rubrik: Menschliches


Fluchtszenario No.1

Es ist 6 Uhr an einem eiskalten Dienstag im Februar und ich weiß noch nicht, dass ich an diesem Tag fliehen werde.

Wie immer taste ich nach meinem Handy, das neben meinem Bett auf den Boden liegt und schalte den Wecker aus. Man soll ja nicht neben dem Handy schlafen. Das ist schlecht für die Schlafqualität. Die Handystrahlung an sich ist angeblich nicht gefährlich, aber durch das blaue Licht des kleinen Bildschirms wird dem Gehirn Tageslicht vorgegaukelt und man produziert kein Einschlafhormon. Deshalb soll man nicht vor dem Schlafen noch aufs Handy schauen. Ich mache das auch nicht. Ich stelle nur meinen Wecker auf dem Handy und lege es dann weit weg von mir auf den Boden. So komme ich nicht in Versuchung.

Auf dem Weg ins Bad überfliege ich die Nachrichten der vergangenen Nacht.
Oh, Scheiße! Krampfartig zieht sich für einen kurzen, aber heftigen Moment mein Magen zusammen. Ich schwitze plötzlich wie verrückt. Mein ganzes Gesicht glüht. Das Shirt klebt mir nass unter den Armen.
Dankbar spüre ich die eiskalten Fliesen. Ich spritze mir eiskaltes Wasser ins Gesicht. Es hilft fast nicht.
Ich schwitze wie verrückt. An der Brust, am Rücken. Meine Handflächen kribbeln. Atme ich normal? Warum sind meine Finger so kalt? Wenn das die Wechseljahre sind, dann wird das ja ein Spaß.
Zitternd greife ich nach der Jeans und dem Shirt, die noch von gestern über dem Badewannenrand liegen. Beim Blick in den Spiegel sehe ich, dass meine dunkelblonden Ponyfransen mir in dünnen Streifen an der Stirn kleben.

In den letzten Jahren habe ich gelernt, mich selbst zu reflektieren. Das soll man ja machen. Nein, ich war nicht bei einer Therapie. Das brauchen nur die wirklich harten Fälle und ich will da niemandem den Platz wegnehmen. Schließlich gibt es so viele grausame Schiksale auf der Welt. So viele Misshandlungen.
Ich habe von schlimmen Fällen von häuslicher Gewalt gelesen, jeden Tag soll es einen Femizid in Deutschland geben- das ist kaum zu glauben. Sollen lieber diese Frauen zum Psychologen gehen, rechtzeitig natürlich. Haha, sorry nicht witzig. Aber im Ernst: ich will nun wirklich nicht daran Schuld sein, dass so jemand keinen Termin bekommen hat.

Zum Glück bin ich meiner Meinung nach gebildet genug, mir die richtigen Verhaltensweisen selbst anzueignen, autodidaktisch sozusagen. Das Internet ist ja voller Informationen zu allen möglichen psychologischen Therapieansätzen. Da habe ich die Selbstreflexion gelernt. Das geht so, dass man tief in sich hineinhört. Wie rede ich mit mir selbst. Was triggert mich. Wie reagiere ich auf Stress.

Ich finde mich ganz gut im Moment. "Ich liebe mich selbst, so wie ich bin", könnte man sagen. Das ist ja auch als Mutter wichtig. Man muss seinen Kindern auch eine gute Mutter sein. Und man kann nur gut erziehen, wenn man selbst mit sich im Reinen ist. Die Kinder durchschauen das schnell, wenn man nur so tut. Und man soll ein gutes Vorbild sein. Wie im Flugzeug, wenn der Druck abfällt und diese Masken herunterfallen. Da soll man sich ja auch erst selbst helfen und dann seinen Kindern. Wenn es mit selbst nicht gut geht, habe ich auch nicht die Kraft, mich gut um meine Kinder zu kümmern.
Ich spüre, dass ich alles im Griff habe, alles unter Kontrolle. Das fühlt sich gut und richtig an. Und alles Unperfekte kann ich ignorieren. Das ist auch wichtig. Wer immer nach Perfektionismus strebt, wird nie glücklich sein.

In der Küche empfängt mich kalter Rauch und die trockenen Ränder einer Thunfischpizza. Es war spät gestern.
Ich öffne das kleine Fenster ohne hinauszusehen und schiebe die Reste der Pizza langsam auf den Küchenboden. Mit einem großen Schritt steige ich darüber.

Später werde ich gründlich aufräumen, saugen und wischen. Ich werde auch die Fenster putzen und die Türen abwischen. Und ordentlich Durchlüften. Es ist nicht gut, wenn die Kinder später in so einer verqualmten Umgebung ihre Hausaufgaben machen müssen. Früher hat sich niemand groß darum gekümmert, wie schädlich das Passivrauchen ist. Wir haben ja sogar in der Schule noch Aschenbecher für unsere Eltern getöpfert.
Das könnte ich meinen Kindern niemals antun.
Also, das mit dem Passivrauchen. Nicht das Töpfern.

Mein Frühstück besteht eigentlich nur aus einem schnellen "Espresso a la Mama" im Stehen. Ich brauche das zum Aufwachen. Man nehme einen Kaffeebecher, lasse einen Espresso hineinlaufen und fülle den Becher mit Amarettolikör auf. Alternativ bietet sich Haselnussschnaps an.

Ich fahre immer erst los, wenn ich merke, dass die Wirkung des Alkohols nachlässt. Da bin ich sehr genau. Sobald ich mich klar und bereit für einen neuen Tag fühle, setze ich mich hinters Steuer. Auf keinen Fall vorher. Meistens ist das so gegen 7:30 Uhr der Fall. Frank und die Kinder gehen dann auch aus dem Haus.
Und das ist auch die Zeit, zu der ich losfahren sollte, um pünktlich um 8 Uhr im Büro zu erscheinen. Pünktlichkeit ist mir auch sehr wichtig. Das ist das Mindeste, was man als Chef von seinen Angestellten erwarten kann. Abgesehen von hervoragender, zuverlässiger und korrekter Arbeit natürlich. Aber mit der Pünktlichkeit fängt alles an. Wenn man zu spät zum Vorstellungsgespräch kommt, kann man den Job gleich vergessen. Ich will nicht, dass mein Chef denkt, ich würde meine Arbeit nicht ernst nehmen.

An diesem Tag hat es minus 3 Grad, als ich ins Auto steige. Die Sonne blendet mich, als ich auf die breite Hauptstraße abbiege.

Ich weiß gar nicht mehr, woran es dann am Schluss gelegen hat.
Vielleicht daran, dass ich an diesem Tag vergessen hatte, meinen Tee mitzunehmen. Normalerweise trinke ich nämlich auf der Fahrt ins Büro fast einen ganzen Liter Kräutertee. Viel Flüssigkeit ist wichtig, um den Feuchtigkeitshaushalt der Haut zu unterstützen. Man soll pro Tag mindestens zwei Liter Wasser oder ungesüßten Tee trinken und an den meisten Tagen schaffe ich das auch. Einen Liter vormittags und einen Liter nachmittags. So mache ich das immer. Die meisten Frauen fangen damit ja leider erst an, wenn sie die ersten Falten an sich entdecken.

Vielleicht lag es daran, dass ich dich an diesem Morgen in deinem peinlichen schwarzen Porsche gesehen habe.
Dass ich dich gesehen habe, wie du auf die Autobahn abgebogen bist. Obwohl du doch hier in der Stadt arbeitest.

Ich habe es in deinem Blick gesehen.
"Komm wir hau'n ab!" hast du mit den Augen gesagt.
"Schmeiß das Handy aus dem Fenster!" hast du gerufen.
"Scheiß doch auf die alle!" hast du geschrien.

Die Fahrt nach Sizilien war lang. Unterwegs habe ich dich aus den Augen verloren. Aber ich werde dich finden.

Und wir werden verdammt nochmal endlich wahnsinnig glücklich sein.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Novelle am 12.03.2025:
Kommentar gern gelesen.
Diese Prosa, der Schreibstil spricht mich an. Toll. Gedanken, die da sind und herauswollen.

Gruß Novelle




geschrieben von Rautus Norvegicus am 13.03.2025:

Liebe Lucy,

wenn du gefunden hast, was du suchst, dann halt es bitte fest. Auch, wenn es nur für ein paar Stunden ist. Denn tust du es nicht, wird dieser Moment für immer weg sein und du kannst ihn (diesen Moment ;-)) nie zurück holen.

Liebe Grüße,

Rautus Norvegicus

PS: Sehr schön zu Lesen, deine Gedanken, deine Geschichte!

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