Veröffentlicht: 29.12.2024. Rubrik: Fantastisches
Orphelia die Einladung in eine Magie Akademie
Vorwort
Willkommen in Silvaria, einer Welt, die von Magie und Mysterien durchzogen ist, wo jede Seele, die mit der Gabe der Magie geboren wird, eine einzigartige Verbindung zu den Kräften dieser Welt besitzt. In Silvaria ist Magie nicht nur eine Fähigkeit – sie ist ein Ausdruck der Seele, ein Spiegel dessen, was in den Tiefen des Individuums verborgen liegt.
Jeder Magiebegabte in Silvaria hat eine spezielle Fähigkeit, die nur ihnen eigen ist. Manche können das Wasser befehligen, andere verstehen es, mit Tieren zu sprechen oder die Elemente nach ihrem Willen zu formen. Doch die Magie ist ebenso vielfältig wie die Welt selbst – einige Talente sind alltäglich, andere sind so selten, dass sie fast wie Legenden wirken.
Die Magie des Schwarms
Unter diesen seltenen Gaben gibt es eine, die die meisten Menschen eher mit Ehrfurcht als mit Bewunderung betrachten: die Fähigkeit, Geister von Insekten zu kontrollieren. Diese Gabe, bekannt als der Schwarm, ist ebenso faszinierend wie beängstigend. Es heißt, sie sei ein Geschenk der Schattenebene, der mystischen Sphäre, in der verlorene und vergessene Seelen weilen.
Nur wenige in der Geschichte Silvarias wurden mit der Gabe des Schwarms geboren, und noch weniger haben es geschafft, sie zu meistern. Denn diese Magie ist nicht nur eine Kraft – sie ist eine Bürde. Der Schwarm ist lebendig, ein Teil des Magiers selbst, aber auch ein Fremder in seiner Seele. Die Geisterinsekten flüstern, sie lenken, und manchmal versuchen sie, die Kontrolle zu übernehmen.
Ophelia, die Protagonistin unserer Geschichte, ist eines dieser seltenen Geschöpfe. Von Geburt an war sie anders – ein Mädchen mit blauer Haut, Mitternachtshaaren und Hörnern, die sie als Kind des Dämonenblutes kennzeichneten. Doch ihre wahre Einzigartigkeit liegt in der Magie, die in ihr lebt. Der Schwarm ist ein Teil von ihr, ein Netz aus zahllosen Geisterinsekten, die sie befehlen kann. Sie nutzt ihre Magie, um Schönheit und Schrecken zu erschaffen, ihre Bewegungen zu verstärken und in ihrer Zirkusvorstellung das Publikum zu verzaubern.
Doch der Schwarm verlangt auch einen Preis. Ophelia lebt ständig mit der Gefahr, die Kontrolle zu verlieren. Die Geisterinsekten sind keine Werkzeuge, sondern Wesen mit eigenem Willen, die nur durch ihre Stärke und Entschlossenheit gebändigt werden können.
Eine Welt voller Wunder und Gefahren
Silvaria ist eine Welt, in der die Magie die Gesellschaft geformt hat. Doch sie ist auch eine Welt, in der Macht oft mit Furcht einhergeht. Magiebegabte werden verehrt, aber auch gefürchtet, besonders jene mit dunklen oder unberechenbaren Kräften. Für Ophelia bedeutet dies, dass sie von den meisten gemieden wird – und doch birgt ihre Gabe ein ungenutztes Potenzial, das größer ist, als sie sich je vorstellen könnte.
Die Reise, die vor ihr liegt, wird nicht nur eine Suche nach dem Verständnis ihrer Magie sein, sondern auch nach ihrem Platz in einer Welt, die sie gleichzeitig bewundert und fürchtet.
Begleiten Sie Ophelia auf dieser Reise, in der sich die Grenzen zwischen Licht und Dunkelheit, Freund und Feind, Kontrolle und Chaos verwischen. Denn in Silvaria ist nichts, wie es scheint – und die größten Gefahren liegen oft im Inneren.
Kapitel ? – Ophelias Alltag
Der Morgen im Zirkus brach mit einem gedämpften Licht an, das durch die dicke Wolkendecke sickerte. Der Regen der Nacht hatte den Boden in ein Mosaik aus Pfützen und Schlamm verwandelt, und die Karren, die wie kleine bunte Inseln im grauen Einerlei standen, schienen ihre Farben verloren zu haben. Doch inmitten dieser Tristesse gab es eine Figur, die fast wie ein Wesen aus einer anderen Welt wirkte.
Ophelia.
Sie war ein Rätsel, ein seltsames, faszinierendes Wesen, das gleichzeitig Teil der Zirkusfamilie war und doch immer eine gewisse Distanz zu ihr hielt. Ihre blasse Haut schimmerte im frühen Licht, so blass, dass sie beinahe durchsichtig wirkte, wie Marmor, der in einer kalten Werkstatt gemeißelt worden war. Doch diese Blässe war nicht die eines einfachen Mädchens, das selten die Sonne sah. Sie war unnatürlich, fast krankhaft, und doch zog sie die Blicke auf sich wie eine verbotene Melodie.
Ihr Haar fiel in einer Flut aus tiefem Mitternachtsblau über ihre Schultern, glänzend und seidig, als hätte die Nacht selbst sie umhüllt. Es wirkte wie eine lebendige Sache, die sich bei jeder Bewegung sanft mit ihr bewegte. Doch es waren die Hörner, die Ophelias Erscheinung so außergewöhnlich machten. Zwei schlanke, glatte Hörner, die aus ihrer Stirn wuchsen, leicht geschwungen wie die eines jungen Tieres. Sie waren dunkel, fast schwarz, mit einem Hauch von Blau, der nur sichtbar wurde, wenn das Licht sie traf.
Ihre Augen waren groß und leuchteten in einem intensiven Blau, das an die tiefsten Ozeane erinnerte, unergründlich und doch voller Leben. Ihre Lippen waren schmal, fast farblos, und bildeten einen scharfen Kontrast zu der dunklen Linie, die ihre Hörner und Haare bildeten. Um ihren Hals trug sie stets eine einfache Kette mit einem kleinen Anhänger, ein Erbstück, das sie seit ihrer Kindheit nicht abgelegt hatte.
Doch hinter dieser faszinierenden, beinahe übernatürlichen Schönheit verbarg sich eine Härte. Ophelias Körper war schlank, fast zu schlank, als ob sie von der Last ihrer Magie und der Geheimnisse, die sie trug, gezeichnet war.
Der Tag begann für Ophelia wie jeder andere. Noch bevor die ersten Sonnenstrahlen das Zirkuszelt berührten, war sie schon wach. Ihr Platz im Zirkus war eine kleine, mit Vorhängen abgetrennte Ecke eines Wagens, in dem sie ein einfaches Bett und ein paar persönliche Gegenstände hatte. Die Geisterinsekten, die in ihr wohnten, summten leise um sie herum, eine konstante, beruhigende Präsenz, die nur sie wahrnehmen konnte.
Sie zog sich ein schlichtes schwarzes Kleid über, das ihre schmale Taille betonte und bis zu den Knöcheln fiel. Sie mochte keine auffällige Kleidung, obwohl sie im Zirkus lebte. Alles, was sie trug, war praktisch und einfach.
Als sie den Wagen verließ, begann ihre tägliche Routine. Sie half zunächst den anderen Zirkusmitgliedern, die Tiere zu füttern und das Equipment vorzubereiten. Ophelia war geschickt, ihre Bewegungen fließend und ruhig, aber es war immer eine gewisse Distanz zwischen ihr und den anderen zu spüren.
„Morgen, Ophelia,“ rief einer der Jongleure, ein junger Mann mit struppigem Haar und einem schiefen Grinsen.
Sie nickte ihm zu, lächelte kurz, aber sagte nichts. Es war nicht, dass sie unhöflich war – Ophelia hatte sich einfach daran gewöhnt, sich zurückzuhalten. Die anderen akzeptierten sie, doch sie wussten alle, dass sie anders war. Manchmal sahen sie die Hörner oder die Geisterinsekten, die gelegentlich um sie herum summten, wenn sie glaubten, dass niemand hinsah.
Nach den Arbeiten am Morgen zog sich Ophelia in die Arena zurück, lange bevor die ersten Zuschauer kamen. Dort begann sie ihr Training. Sie kletterte auf das Hochseil, das sie seit Jahren beherrschte, und balancierte mit einer Präzision, die selbst die erfahrensten Artisten erstaunte. Ihre Geisterinsekten folgten ihr, flogen in Formationen um sie herum, als wären sie Teil ihrer Darbietung.
Doch es war mehr als das. Das Hochseil war ihr Zufluchtsort. Dort oben, hoch über dem Boden, fühlte sie sich frei. Sie konnte die Blicke der anderen nicht spüren, die Fragen nicht hören, die sie oft wie unsichtbare Messer trafen.
Als sie fertig war, setzte sie sich auf die hölzerne Plattform des Hochseils und blickte in das leere Zelt. Sie fragte sich oft, ob sie hierher gehörte. Der Zirkus war ihr Zuhause, Corvin der Zirkusdirektor der ihr Adoptivvater war, doch sie konnte die Dunkelheit, die in ihr lebte, nie ganz ignorieren. Der Schwarm, die Geisterinsekten, flüsterten manchmal zu ihr, zeigten ihr Dinge, die sie nicht sehen wollte. Sie wusste, dass sie anders war – dass sie nicht wirklich hierherpasste.
Nach dem Training half sie den Kindern des Zirkus bei ihren Übungen, unterrichtete sie in Balance und Geschicklichkeit. Die Kinder liebten sie, obwohl sie sie auch ein wenig fürchteten. Ihre Hörner waren für sie etwas, das aus Märchen stammte, etwas Faszinierendes und zugleich Beängstigendes.
Ein Moment der Einsamkeit
Am Abend, bevor die Vorstellung begann, zog sich Ophelia oft zurück. Sie saß auf einer kleinen Kiste hinter dem Zelt und blickte in den Wald, der den Zirkus umgab. Der Regen hatte aufgehört, und die Welt schien für einen Moment still zu stehen.
Die Geisterinsekten summten leise um sie herum, und sie spürte ihre Präsenz wie ein warmes, beruhigendes Kribbeln auf der Haut. Sie waren ihr Schutz und ihr Fluch, ein Teil von ihr, den sie nicht wählen konnte.
„Ihr seid alles, was ich habe,“ flüsterte sie in die Dunkelheit, ihre Stimme kaum mehr als ein Hauch.
Ophelia wusste, dass sie anders war. Doch an Tagen wie diesem fragte sie sich, ob sie jemals herausfinden würde, warum.
Kapitel ? – Die Vorstellung im Zirkus
Der Abend war düster, der Himmel schwer und von tiefen Wolken bedeckt, als der Zirkus sich am Rande der Stadt niederließ. Die dampfenden Ränder des Zeltes zogen die Blicke der Passanten an, die von bunten Lichtern und verlockenden Düften umhüllt wurden. Doch es war nicht nur die Magie des Zirkus, die die Besucher anlockte, sondern auch das Geheimnis, das sich in den dunklen Ecken verbarg.
Professor Elarion betrat das Gelände mit einer stillen Autorität. Der Regen, der seit Stunden auf das Zelt niederprasselte, schien ihn nicht zu berühren. Unter dem schwarzen Mantel, der in den Winden des Abends flirrte, lag eine Aura von Geheimnissen, die Elarion unnahbar machten. Seine goldenen Augen funkelten mit einer intensiven Neugierde, als er durch die engen Gänge zwischen den Karren schritt, den Gesichtern der Schausteller und Darsteller ausweichend. Doch er war nicht hier, um sich die allgemeinen Attraktionen anzusehen. Nein, seine Augen suchten einen bestimmten Punkt – eine Gestalt, die in den Schatten des Zeltes lebte.
Ophelia.
Die junge Frau war ein Mysterium für die meisten, ein Rätsel, das die Zirkusbesucher mehr aus Staunen als aus Wissen betrachteten. Ihre Schönheit, gepaart mit einer unheimlichen Aura, zog viele an. Doch was sie von den anderen Künsten des Zirkus unterschied, war nicht nur ihr Talent, sondern die Magie, die in ihr lebte. Die Zirkusleitung selbst hatte keine Ahnung, was Ophelia wirklich war, aber sie wusste, dass sie einzigartig war. Ihre Auftritte, in denen sie eine Hochseil-Akt aufführte, während die Geisterinsekten um sie herumflogen, waren ein Highlight der Vorstellung. Doch nicht nur das – es war die Magie, die sie ausstrahlte, die eine subtile, aber mächtige Präsenz erzeugte.
Elarion hatte schon oft von ihr gehört. Gerüchte, flüsternde Stimmen in den dunklen Gassen der Akademie Illumina, hatten von einem Mädchen gesprochen, das in sich ein altes, dunkles Erbe trug – ein Erbe, das in den Tiefen der Dämonenblut-Magie verwurzelt war. Und es war genau diese Magie, die ihn anlockte.
Er betrat den Zeltbereich, der mit Vorhängen abgetrennt war und hinter denen sich die Artisten vorbereiteten. Der Boden war weich vom Regen, und der Geruch von nassem Holz und brennendem Lagerfeuer lag in der Luft. Elarion hob den Blick, als das Zelt sich langsam füllte, die ersten Zuschauer in ihre Plätze strömten. Doch sein Blick suchte nicht die Bühne, sondern die Kulissen. Er wusste, dass sie dort war, wartend, wie immer kurz davor, ihre schillernde Maske abzulegen und in ihre Rolle zu schlüpfen.
Die Vorstellung begann, und das Zelt erleuchtete in einem faszinierenden, fast magischen Schein. Ophelia trat in die Arena. Ihr schwarzes Kleid schimmerte im Licht der Fackeln, das schlichte Design wirkte fast unscheinbar, aber ihre Präsenz war erdrückend. Der ganze Raum schien sich um sie zu drehen, als sie auf das Seil trat. Doch was die Zuschauer nicht wussten, war das, was sich in ihr verbarg – was Elarion wusste.
Unter dem Haar, das in dunklen, glänzenden Strähnen wie ein Wasserfall auf ihre Schultern fiel, verbargen sich zarte, aber spürbare Hörner, die kaum jemand bemerkte. Sie waren fast unsichtbar, aber für jemanden wie Elarion, der das Omen dämonischer Blutmagie kannte, waren sie ein klares Zeichen. Ophelia trug das Erbe von Kreaturen, die tief in den Schatten der Welt zu Hause waren – Dämonenblut, das in ihren Adern floss und sie mit einer Macht verband, die sowohl gefährlich als auch faszinierend war.
Ophelia stieg auf das Hochseil, und mit einer Anmut, die selbst Elarion in Erstaunen versetzte, begann sie, den Draht zu betreten. Ihre Augen, von einem tiefen Blau, glühten in der Dunkelheit des Zeltes wie zwei Flammen. Die Zuschauer hielten den Atem an, als sie sich in einer schwindelerregenden Höhe bewegte, ihre Schritte sicher und ruhig, als ob sie die Schwerkraft herausforderte. Doch was ihre Darbietung von anderen Akrobaten unterschied, war das, was mit ihr geschah, als sie den Draht betrat.
Die Geisterinsekten begannen zu summen, ein zarter, doch unheimlicher Klang, der durch das Zelt hallte. Unsichtbare Kräfte schienen in der Luft zu tanzen, als die Geisterinsekten, die in Ophelias Körper lebten, zum Leben erwachten. Sie schwirrten um sie herum, ein Schwarm von schillernden, fast unheimlichen Kreaturen, die den Raum erleuchteten. Ihre Präsenz schien die Zeit zu dehnen, und die Zuschauer spürten unwillkürlich eine Gänsehaut, als sie Zeuge dieses Schauspieles wurden. Doch niemand wusste, dass diese Geisterinsekten nicht nur zur Unterhaltung dienten. Sie waren ein Teil von Ophelia – sie waren die Manifestation des „Schwarmes“, der Dunklen Magie, die in ihr lebte.
Elarion beobachtete alles mit einem scharfen Blick. Seine goldenen Augen folgten jeder Bewegung, jeder Geste von Ophelia. Er konnte die Verbindung zwischen ihr und ihren Geistern spüren – eine tiefere, stärkere Bindung als die, die man bei gewöhnlicher Magie sah. Diese Geister waren nicht einfach Geschöpfe, die sie beschwor. Sie waren ein Teil von ihr, ein untrennbarer Teil ihrer Existenz.
Als die Vorstellung sich ihrem Höhepunkt näherte, war es Elarion, der als Erster die Wirkung der Magie verstand, die in Ophelia wirkte. Ihr Tanz, ihr Hochseilakt, die Art, wie die Insekten um sie flogen – alles war perfekt orchestriert, eine Symphonie der Dunkelheit und der Schönheit. Doch in jedem Augenblick, in jeder Bewegung, spürte er die Wellen der Gefahr, die in ihr schlummerten. Diese Magie war nicht nur faszinierend, sie war auch gefährlich. Und er wusste, dass Ophelia nicht einmal ansatzweise die volle Kontrolle über die Mächte hatte, die in ihr wohnten.
Als sie den Draht mit einer letzten, fließenden Bewegung verließ und die Vorstellung in einem tosenden Applaus endete, stand Elarion da, tief in Gedanken versunken. Es war klar, dass er mehr von dieser jungen Frau wissen musste. Ihre Kräfte waren außergewöhnlich, aber auch ungezähmt. Und wenn er sie unter seine Obhut stellen konnte, dann könnte er sie vielleicht zu etwas noch Größerem formen – oder, wie er es sich erhoffte, sie vor der Dunkelheit bewahren, die in ihr lauerte.
Die Entscheidung war gefallen. Der Moment war gekommen. Er würde sie ansprechen.
Kapitel ? – Der Zirkusdirektor
Das Lagerfeuer warf flackernde Schatten auf die Zeltwand, während das leise Knarren eines Schaukelstuhls die einzige Unterbrechung der nächtlichen Stille war. Der Direktor des Zirkus, ein großer, kräftiger Mann mit grauem Bart und wettergegerbter Haut, saß an seinem üblichen Platz vor seinem Wohnwagen. Sein Name war Corvin, und er war nicht nur ein Mann von beeindruckender Statur, sondern auch von unerschütterlichem Willen. Er war seit Jahrzehnten das Herz des Zirkus und hatte jedes Mitglied seiner Truppe wie eine Familie behandelt. Doch niemand lag ihm so sehr am Herzen wie Ophelia.
Corvin hatte sie vor 17 Jahren gefunden – ein winziges Bündel, verlassen an einem regnerischen Tag inmitten eines abgelegenen Waldes. Es war nicht nur ihr Anblick gewesen, der ihn damals schockiert hatte, sondern auch die kleinen Hörner, die aus ihrer Stirn ragten. Er hätte sie wie viele andere als Dämon oder Unheilbringer ansehen können, aber stattdessen hatte er sie aufgenommen, als wäre sie sein eigen Fleisch und Blut. Unter seiner Obhut war sie zu einer talentierten und gleichzeitig komplexen jungen Frau herangewachsen. Ihre Kräfte, die mit der Zeit immer stärker wurden, hatten ihm jedoch stets Sorgen bereitet.
Nun stand dieser Fremde vor ihm, der behauptete, er könne Ophelia helfen. Elarion, in seinem schwarzen Mantel und mit den goldenen Augen, die wie scharfe Dolche jede Bewegung von Corvin zu durchdringen schienen. Der Professor hatte sich höflich vorgestellt, aber Corvin war kein Mann, der leicht zu beeindrucken war.
„Also, du bist gekommen, um sie mir zu nehmen?“ fragte Corvin mit einer tiefen, rauen Stimme, die durch jahrelanges Rufen in den Zirkusarenen geschärft worden war.
Elarion, der am Rand des Lagerfeuers stand, den Mantel locker um sich geschlungen, schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht hier, um etwas zu nehmen, Direktor Corvin. Ich bin hier, um ihr eine Chance zu geben – eine, die sie hier niemals haben wird.“
Corvins Augen verengten sich. „Eine Chance? Ophelia hat hier ein Zuhause. Eine Familie. Wir schützen sie, und sie schützt uns. Warum sollte ich sie einem Fremden anvertrauen, der behauptet, zu wissen, was das Beste für sie ist?“
Elarion setzte sich langsam auf einen Baumstumpf, der gegenüber Corvin stand, und legte die Hände auf seinen Stab. Sein Blick war ruhig, aber bestimmend. „Ich weiß, dass Sie sie lieben wie eine Tochter. Und ich respektiere alles, was Sie für sie getan haben. Aber Ophelia ist mehr als nur ein außergewöhnliches Mädchen. Sie trägt eine Magie in sich, die mächtig, gefährlich und unkontrollierbar ist. Wenn sie bleibt, wird sie irgendwann selbst für Sie und den Zirkus eine Gefahr sein.“
Corvins Stirn legte sich in Falten, und seine Hände ballten sich zu Fäusten. „Gefahr? Sie hat uns nie geschadet. Sie hat uns gerettet, als Räuber uns angegriffen haben. Sie hat uns geholfen, zu überleben. Wie kannst du es wagen, sie so zu verurteilen?“
„Ich verurteile sie nicht,“ sagte Elarion ruhig. „Ich bewundere sie. Aber ich bin auch ein Mann, der weiß, was geschieht, wenn Magie wie die ihre unkontrolliert bleibt. Der Schwarm, der in ihr lebt, ist nicht nur ein Werkzeug oder eine Gabe. Es ist eine Macht, die wächst, die Nahrung sucht und sich entfalten will. Sie braucht Anleitung, Ausbildung – etwas, das sie hier niemals bekommen wird.“
Corvin schwieg, doch die Anspannung in seinem Gesicht zeigte, dass er Elarions Worte nicht leichtfertig abtat.
„Denken Sie an ihre Hörner,“ fuhr Elarion fort, seine Stimme weicher, fast einfühlsam. „Denken Sie an ihr Erbe. Sie ist nicht wie die anderen hier, Corvin. Sie ist ein Wesen zwischen den Welten, ein Bindeglied zwischen Leben und Tod. Ohne die richtige Führung wird sie irgendwann zerbrechen – oder etwas anderes wird sie übernehmen. Wollen Sie das riskieren?“
Corvins Augen glitten hinüber zu einem Fenster des Hauptzeltes, durch das er Ophelias Silhouette sehen konnte. Sie war gerade dabei, sich für ihren Auftritt vorzubereiten, ihre Bewegungen leicht und fließend wie ein Tänzer, während die Geisterinsekten um sie herum schwebten.
„Ich habe geschworen, sie zu beschützen,“ sagte Corvin schließlich mit gebrochener Stimme. „Ich habe sie wie meine eigene Tochter großgezogen. Sie ist alles, was ich habe. Und jetzt soll ich sie gehen lassen?“
Elarion lehnte sich leicht vor. „Sie loszulassen bedeutet nicht, sie zu verlieren. Es bedeutet, ihr die Möglichkeit zu geben, das Beste aus sich zu machen. Wenn sie bleibt, wird sie sich nie entfalten können. Aber in der Akademie Illumina wird sie lernen, wer sie wirklich ist, was sie sein kann – und wie sie ihre Kräfte beherrschen kann, ohne von ihnen beherrscht zu werden.“
Corvin schloss die Augen und atmete schwer. In seinem Inneren tobte ein Kampf Alles, was er wollte, war, sie zu schützen. Aber vielleicht, nur vielleicht, hatte der Mann vor ihm recht. Vielleicht war das, was Ophelia wirklich brauchte, nicht seine schützende Hand, sondern eine Zukunft, in der sie selbst die Kontrolle hatte.
„Wenn ich sie dir anvertraue,“ sagte Corvin schließlich, „was versprichst du mir?“
Elarion erhob sich und sah ihm direkt in die Augen. „Ich verspreche Ihnen, dass ich sie lehren werde, sich selbst zu schützen. Dass ich alles tun werde, um sie stark zu machen – stärker, als sie jetzt ist. Und ich verspreche Ihnen, dass sie niemals vergessen wird, wer sie ist oder woher sie kommt.“
Ein langes Schweigen folgte, das nur vom Prasseln des Feuers und dem leisen Trommeln des Regens unterbrochen wurde. Schließlich nickte Corvin langsam.
„Ich werde mit ihr reden,“ sagte er schwer. „Aber wenn du dein Versprechen brichst, wirst du mich wiedersehen – und dann wirst du wünschen, du hättest sie niemals mitgenommen.“
Elarion neigte den Kopf leicht, ein Zeichen des Respekts. „Ich breche meine Versprechen nicht, Direktor Corvin.“
Mit diesen Worten trat Elarion zurück in die Schatten, während Corvin allein am Feuer saß, die Last der Entscheidung auf seinen Schultern.
Kapitel ?
Der Regen fiel in dichten Strömen auf das bunte Zirkuszelt herab, das wie ein funkelnder Edelstein im Grau des Abends lag. Die Lichter der Karren, die den Zirkus umgaben, warfen tanzende Schatten auf den schlammigen Boden. In einer Ecke des Zeltes saß ein kleines Mädchen, kaum mehr als 17 Sommer alt, mit blasser Haut und Haaren, die wie ein Wasserfall aus Mitternachtsblau über ihre Schultern flossen. Ophelia.
„Du bist ein faszinierendes Geschöpf.“ Die tiefe Stimme ließ sie aufblicken. Vor ihr stand ein Mann, der auf den ersten Blick wie ein gewöhnlicher Reisender wirkte, doch seine scharfen, goldenen Augen verrieten etwas anderes. Er trug einen langen schwarzen Mantel, der sich im Wind bauschte, und einen Stab, der bei jeder Bewegung leise vibrierte.
„Wer bist du?“ fragte Ophelia, ihre Stimme war leise, aber wachsam. Ihre Finger spielten mit einer der Ketten an ihrem Gothic-Kleid, eine Geste, die sie oft benutzte, um sich abzulenken.
„Mein Name ist Professor Elarion von der Akademie Illumina. Ich bin hier, um dir ein Angebot zu machen.“
Sie zog eine Augenbraue hoch und ließ ein freches Lächeln aufblitzen. „Ein Angebot? Bin ich etwa zu einer Attraktion in deinem edlen Zirkel geworden?“
Elarion ignorierte ihren Spott und setzte sich auf einen umgedrehten Kistenhocker vor ihr. Er musterte sie mit einer Mischung aus Neugier und Respekt. „Ich habe gesehen, wie du tanzt. Wie du singst. Aber das ist nicht der Grund, warum ich hier bin. Ich spüre die Magie in dir, Ophelia. Eine dunkle, einzigartige Magie, die selten ist in dieser Welt.“
Ihre Augen verengten sich. Für einen Moment schien das Mädchen, das eben noch so verspielt und frech war, hinter einer unsichtbaren Mauer zu verschwinden. „Magie? Ich habe keine Magie.“
Elarion lehnte sich vor, sein Blick durchdringend. „Du hast mehr als nur Magie. In dir lebt etwas Außergewöhnliches. Etwas, das zugleich wunderschön und furchteinflößend ist. Der Schwarm.“
Ihre Lippen wurden schmal. „Woher weißt du das?“
„Ich habe ihn gespürt. Ich bin einer der wenigen, die in der Lage sind, solche Magie zu erkennen. Es ist keine gewöhnliche Nekromantie, Ophelia. Die Geister, die du in dir trägst, sie schützen dich. Sie nähren dich. Und sie verlangen etwas von dir, nicht wahr?“
Ein leises Zucken lief über ihr Gesicht, als ob er einen wunden Punkt getroffen hätte. „Was willst du von mir?“
„Ich möchte dir helfen, sie zu kontrollieren. Deine Kräfte auszubauen. Du bist etwas Besonderes, und die Akademie Illumina ist der Ort, an dem du lernen kannst, diese Gabe zu meistern. Dort wirst du auf andere treffen, die wie du sind – Außenseiter, Genies, manchmal auch Gefährliche. Aber du wirst verstehen, dass du nicht allein bist.“
Ophelia stand auf und wandte ihm den Rücken zu. Ihre langen Zöpfe schwangen wie Seidenfäden hinter ihr her. „Ich habe gelernt, allein zu überleben. Der Schwarm und ich… wir brauchen niemanden.“
„Bist du dir sicher?“ Elarion erhob sich, und seine Stimme wurde sanfter. „Ich weiß, dass du verletzt bist. Dass du vieles verloren hast. Aber was, wenn es einen Weg gibt, zu heilen, Ophelia? Einen Weg, das, was dich gebrochen hat, in etwas Mächtiges zu verwandeln?“
Sie drehte sich langsam zu ihm um. Ihre Augen, die in der Dunkelheit des Zeltes wie zwei blaue Flammen leuchteten, fixierten ihn mit einer Intensität, die ihn innehalten ließ. „Und was, wenn ich eines Tages die Kontrolle verliere? Was, wenn der Schwarm alles zerstört, was mir wichtig ist?“
Elarion lächelte schwach. „Dann werde ich da sein, um dich daran zu erinnern, wer du bist. Und die Akademie Illumina wird dich lehren, stärker zu sein, als deine Ängste.“
Ein langes Schweigen folgte, nur unterbrochen vom Prasseln des Regens. Schließlich nickte Ophelia kaum merklich. „Wenn du lügst, wirst du es bereuen.“
Elarion verneigte sich leicht, fast feierlich. „Dann sei bereit, Ophelia. Denn deine Reise beginnt jetzt.“
Im nächsten Moment spürte sie ein Kribbeln auf ihrer Haut, als der Schwarm in ihr zu summen begann. Die Geister reagierten auf seine Worte, als wüssten sie, dass etwas Großes bevorstand. Und tief in ihrem Inneren fragte sich Ophelia, ob dies der Beginn ihrer Rettung war – oder ihres Untergangs.
Kapitel ? – Der Abschied
Die ersten Sonnenstrahlen brachen zögerlich durch die Wolkendecke, als der Zirkus langsam zum Leben erwachte. Die kühle Morgenluft war von einem leisen Summen erfüllt – Ophelias Geisterinsekten, die um sie herumschwirrten, als spürten sie die Schwere des Moments. Heute war der Tag, an dem sie den Ort verlassen würde, den sie ihr ganzes Leben lang Heimat genannt hatte.
Vor ihrem Wagen hatte sich die Zirkusfamilie versammelt. Jongleure, Akrobaten, Clowns, Tierbändiger – all die Menschen, mit denen sie seit ihrer Kindheit zusammengelebt hatte. Sie standen in einem Halbkreis, einige mit traurigen Gesichtern, andere mit ermutigenden Blicken. Doch die Stimmung war von einem unausgesprochenen Schmerz durchzogen.
Ophelia, in ihrem schwarzen Reisekleid, das ihre blasse Haut und ihre mitternachtsblauen Haare noch mehr hervorhob, trat nach vorne. Ihre Augen glänzten, doch sie hielt sich aufrecht. Sie wollte stark wirken, obwohl ihr Herz schwer war.
„Ich… möchte mich bei euch bedanken,“ begann sie, ihre Stimme leise, aber fest. „Ihr wart immer meine Familie. Ihr habt mich aufgenommen, als ich nichts hatte, und mir ein Zuhause gegeben. Ihr habt mich akzeptiert, so wie ich bin – mit allem, was mich anders macht.“
Einige der Kinder schnieften leise, und eine ältere Frau, die Seiltänzerin Marla, trat vor und nahm Ophelias Hände in ihre eigenen. „Du bist ein Teil von uns, Ophelia. Das wirst du immer sein.“
Ophelia nickte, unfähig, Worte zu finden. Sie ließ ihren Blick über die Gruppe schweifen, hielt bei jedem kurz inne, um sich die Gesichter einzuprägen. Doch als sie Corvin sah, der etwas abseits stand, schnürte sich ihre Kehle zu.
Ein schwerer Abschied
Corvin stand mit verschränkten Armen da, sein Gesicht war ernst, doch seine Augen verrieten den Kampf, den er mit sich selbst ausfocht. Er war der starke Mann des Zirkus, derjenige, auf den sich alle verlassen konnten. Doch jetzt wirkte er älter, müder.
Ophelia ging langsam auf ihn zu. Ihre Geisterinsekten zogen sich zurück, als ob sie spürten, dass dies ein Moment war, der nur ihnen beiden gehörte.
„Papa…,“ begann sie leise, ihre Stimme bebend.
Das war das erste Mal seit Jahren, dass sie ihn so nannte. Corvin runzelte die Stirn, und für einen Moment wirkte es, als wolle er etwas sagen, doch dann öffnete er nur die Arme.
Ophelia zögerte nicht. Sie warf sich in seine Umarmung, vergrub ihr Gesicht in seiner breiten Brust und ließ die Tränen endlich fließen. Er hielt sie fest, so fest, dass es fast schmerzte, aber sie wollte diesen Moment nicht loslassen.
„Du wirst immer meine Tochter sein,“ sagte Corvin schließlich, seine Stimme tief, aber gebrochen. „Ich habe dich gefunden, als die Welt dich verlassen hatte. Und egal, wo du hingehst, du wirst immer einen Platz hier haben. Verstehst du?“
Ophelia nickte, unfähig zu sprechen.
„Ich mache mir Sorgen um dich,“ fuhr er fort, seine Hand strich über ihr Haar. „Du bist stark, das weiß ich. Aber diese Welt da draußen, Ophelia… sie ist nicht so wie hier. Sie wird dir wehtun. Und ich werde nicht da sein, um dich zu beschützen.“
Sie löste sich leicht von ihm, ihre Augen rot vor Tränen, aber voller Entschlossenheit. „Du hast mich stark gemacht, Papa. Du hast mich gelehrt, zu kämpfen. Und ich verspreche dir, ich werde dich nicht enttäuschen.“
Corvin sah sie lange an, bevor er nickte. Er griff in seine Tasche und holte ein kleines Medaillon hervor. Es war aus einfachem Silber, abgenutzt, aber liebevoll gepflegt.
„Das hier gehört dir,“ sagte er und legte es ihr um den Hals. „Es hat mir immer Glück gebracht. Vielleicht bringt es dir dasselbe.“
Ophelia hielt das Medaillon fest, als wäre es der einzige Anker in der Flut von Emotionen, die sie zu übermannen drohten.
Der letzte Blick zurück
Als es Zeit war, mit Elarion zu gehen, stand die Zirkusfamilie am Rand des Lagers und sah ihr nach. Einige winkten, andere konnten nur stumm zusehen.
Ophelia drehte sich noch einmal um, ihre Augen suchten Corvin, der allein am Lagerfeuer stand. Sie hob die Hand, ein letztes stilles Versprechen, bevor sie sich endgültig abwandte.
Die Geisterinsekten schwebten wie ein schützender Schleier um sie herum, während sie Elarion folgte. Doch in ihrem Herzen spürte sie eine Mischung aus Hoffnung und Schmerz. Sie wusste, dass sie diesen Ort, diese Menschen, niemals wirklich vergessen würde. Aber sie wusste auch, dass dies der Beginn einer neuen Reise war – einer Reise, die sie vielleicht nicht nur zu ihrer Magie, sondern auch zu sich selbst führen würde.