Veröffentlicht: 02.11.2024. Rubrik: Nachdenkliches
Unerwarteter Gast
„Hallo, komm bitte schnell auf Station G1 – jemand ist in den Frauenduschraum eingedrungen.“ Die Stimme der Krankenschwester klang aufgeregt, fast panisch. Es war mein Nachtdienst als Sicherheitsmitarbeiter im Krankenhaus, und ich eilte sofort in die erste Etage. Manchmal, vor allem im Winter, suchen Obdachlose oder Süchtige hier Unterschlupf. Wenn man sie erwischt, werden sie hinausgeworfen. Fast wie ein Katz-und-Maus-Spiel – eines, das beiden Seiten auf gewisse Weise Freude zu machen scheint.
Als ich den Duschraum betrat, fiel mein Blick sofort auf die alte, unordentliche Kleidung auf dem Boden, das Rauschen des Wassers in einer der Kabinen war zu hören. Die Tür stand offen, und ich konnte sehen, wie ein junger Mann, etwa zwanzig Jahre alt und völlig nackt, den Duschkopf über seinem Kopf hielt und leise vor sich hin summte. Vielleicht war es Arabisch. Er schien mich nicht zu bemerken und bewegte sich leicht im Takt. Sein bestes Stück schwang im Rhythmus der Melodie hin und her, zeichnete dabei einen deutlichen Bogen von einem Oberschenkel zum anderen.
Ein singender jünger Araber, völlig nackt in der Frauendusche mitten in der Nacht - das Bild hatte etwas Skurriles an sich.
Ich stand dort, sah ihm zu und fragte mich, ob er überhaupt ahnte, dass er entdeckt worden war. Das Wasser lief ihm über das Gesicht, auf dem ein glückseliges Lächeln lag … vielleicht, dachte ich, war dies der glücklichste Moment, den er seit Langem erlebt hatte.
Die Krankenschwester war leise von hinten herangetreten, warf einen Blick hinein, lief plötzlich rot an und rannte hinaus. Nach einer Minute kam sie zurück und reichte mir wortlos ein großes Badetuch und ein Stück Seife. In diesem Moment öffnete der Eindringling die Augen; sein Gesicht wechselte innerhalb eines Augenblicks von einem Ausdruck völliger Zufriedenheit zu unverhohlener Angst. Er sagte kein Wort, atmete nur schwer.
Etwas in mir hielt mich davon ab, ihn sofort zu vertreiben, wie es in solchen Fällen üblich ist. Ich zeigte ihm fünf Finger, überreichte ihm Seife und Handtuch und trat zur Seite. Fünf Minuten sollten reichen, dachte ich. Auf dem gesamten Weg zum Ausgang verbeugte sich der unerwartete Gast immer wieder, legte die Hand aufs Herz und drückte so seine unendliche Dankbarkeit aus.
Zu Hause angekommen, nahm ich eine heiße Dusche, aß eine Kleinigkeit und versuchte, etwas zu lesen. Doch bald legte ich das Buch weg. Etwas hinderte mich daran, mich auf die Lektüre zu konzentrieren. Die Bilder gingen mir immer wieder durch den Kopf.
Ich dachte daran, wie selbstverständlich wir jene kleinen Annehmlichkeiten nehmen, die unser Leben so angenehm machen, und wie unvorstellbar es für uns scheint, ohne sie zu leben. Für einen Moment des Glücks braucht jeder von uns jedoch etwas anderes, und konstantes heißes Wasser in der Dusche oder eine stabile Heizung im Winter gehören für uns sicherlich nicht dazu. Doch für jemanden könnte selbst das schon genug sein.
Alles erkennt man im Vergleich, so heißt es.
Doch das Gefühl blieb. Warum lässt mich dieses innere Unbehagen, das Gefühl einer gewissen Schuld, nicht los? Als trüge ich eine Verantwortung dafür, dass ich im Warmen duschen kann, im Gegensatz zu denen, die wir jeden Tag aus der Wärme in die Kälte schicken, ohne ein schlechtes Gewissen dabei zu haben. Und ich frage mich: Ist das gerecht?