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2xhab ich gern gelesen
geschrieben 2024 von Nazim Huseynov (apscheron).
Veröffentlicht: 28.10.2024. Rubrik: Satirisches


Das Extra-Chromosom

Es war ein Samstagabend wie jeder andere. Ich schaute das Fußballmagazin und suchte verzweifelt nach etwas Positivem im Spiel von Schalke – leider vergeblich. Als die Tür klingelte und mein russischer Nachbar Oleg in den Flur taumelte, umhüllt von einer Duftwolke, die stark nach Wodka und einem Hauch von Knoblauch roch, wurde mir klar, dass ich an diesem Abend wohl keinen Frieden finden würde. Normalerweise verbrachte Oleg seine Abende vor dem Computer und saugte antiwestliche Propaganda aus dem russischen Internet in sich auf, die er mit dem berühmten Getränk seiner Heimat hinunterspülte. Doch heute erinnerte er mich an einen Bergsteiger, der sein Leben lang davon geträumt hatte, den Everest zu erklimmen, und nun den letzten Schritt auf den Gipfel geschafft hatte. Seine glänzenden Augen und das leicht dümmliche Grinsen verrieten mir, dass mich mal wieder eine Sensation erwartete, an die ich mich inzwischen gewöhnt hatte.
„Was ist es diesmal?“, fragte ich ihn mit einem Hauch Ironie. „Hat sich Putin einer Geschlechtsumwandlung unterzogen und betrügt jetzt seine Turnerin mit seinem Berater? Oder hat Amerika Alaska im Tausch gegen ein Fass Kaviar zurückgegeben?“ Mein Nachbar schätzte meinen Sarkasmus wenig und platzte stattdessen stolz heraus: „Gerade eben hat Russlands Kulturminister der ganzen Welt verkündet, dass Russen ein Extra-Chromosom besitzen und dass genau das uns von allen anderen Völkern unterscheidet. Und er ist Wissenschaftler – er weiß, wovon er spricht!“ Wie immer in solchen Situationen war es an mir, auf die neueste Portion Unsinn zu reagieren, die meinem leichtgläubigen Nachbarn eingetrichtert worden war.
„Sechsundvierzig,“ sagte ich leise. „Was, sechsundvierzig?“, fragte Oleg verwirrt zurück. „Die anderen, wie du sie nennst, haben sechsundvierzig Chromosomen.“ „Dann haben wir eben siebenundvierzig!“, rief mein Nachbar aufgebracht. „Ein Kulturminister würde doch nicht lügen!“ „Versteh mich nicht falsch, ich habe nichts dagegen. Meinetwegen siebenundvierzig, wenn du das willst. Dieses siebenundvierzigste Chromosom gilt unter Wissenschaftlern übrigens als Ursache für das Down-Syndrom. Vielleicht habt ihr aber eine eigene russische Version davon,“ fügte ich sarkastisch hinzu.
Oleg verstummte und brauchte einen Moment, um meine Worte zu verdauen. Er sah aus wie jemand, der sich über einen millionenschweren Jackpot in Euro freut, nur um dann festzustellen, dass der Spielautomat den Gewinn in Rubel ausgespuckt hatte. Ein Vergleich, der vielleicht unfair ist – immerhin wäre ein Millionengewinn in Rubel immer noch ziemlich beachtlich, zumindest für mich.
„Schau mal,“ versuchte ich meinen von der russischen Propaganda geblendeten Nachbarn zu beruhigen, „dein Minister – übrigens heißt er Medinsky – ist in Wirklichkeit kein Wissenschaftler, seine Doktorarbeit hat er einfach abgeschrieben. Und ist es am Ende nicht schön, dass wir trotz aller Unterschiede doch etwas gemeinsam haben?“ Leider zeigte mein schwacher Versuch, ihn zu beschwichtigen, keinerlei Wirkung. Oleg ließ den Kopf hängen und verschwand, ohne mir noch „Gute Nacht“ zu wünschen. Alles wie immer. Doch diesmal hatte ich das Gefühl, als hätte ich ihm sein liebstes Spielzeug weggenommen und ihm gleichzeitig den Mittelfinger gezeigt. Ja, so ein schlechter Mensch bin ich wohl.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Kargut am 29.10.2024:

Hallo Nazim,
die Geschichte und die Idee ist gut, nur etwas zu langatmig. Ich hätte sie etwas komprimiert. Auch mir fällt das immer schwer.
Liebe Grüße
Kargut




geschrieben von Bad Letters am 01.11.2024:

Es gibt halt einfach zu viele Menschen apscheron, die für Propaganda zugänglich sind, weil sie sich die Mühe, hinter die Lügen schauen zu wollen, ersparen.

MfG
Bad Letters


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