Plan B

Diese lustige Geschichte ereignete sich vor vielen Jahren, als ich, nach zwei Jahren in Deutschland und verzweifelt auf der Suche nach Arbeit, beschloss, mich an einer Akademie für Immobilienkurse für Hochschulabsolventen anzumelden. Am Kursende musste man spezielle Teste ablegen. Auf dem Weg zum Test im Steuerrecht traf ich am Eingang der Akademie meinen Kommilitonen Jörg. Jörg, ein kleiner, dunkeläugiger und schlanker Jurist, hatte gerade die Universität erfolgreich abgeschlossen. Mit einem Hauch von Herablassung betrachtete er mich, einen Betriebswirt aus der ehemaligen Sowjetunion, was mich jedoch nicht störte. Er machte stets deutlich, dass diese Kurse für ihn nur eine Möglichkeit waren, sich nach den anstrengenden Uni-Prüfungen zu entspannen – eine Pause, wie er mir gleich zu Beginn unseres Kennenlernens erzählte. Auf Kosten des damaligen Arbeitsamts, natürlich.
An diesem warmen Herbstmorgen trug er Jeans und eine kurze Lederjacke über einem blauen Hemd und einer zerknitterten roten Krawatte. Letztere überraschte mich ein wenig.
„Hast du die Antworten hinter der Krawatte versteckt?“, fragte ich scherzhaft. Jörg grinste: „Plan B für den Test heute. Ach, übrigens – der Dozent wohnt nebenan, tut aber so, als kenne er mich nicht. Aber seine Frau grüßt mich regelmäßig, wenn sie mit ihrem Hund spazieren geht.“
„Und was ist mit Plan A?“, fragte ich weiter. „Der war ähnlich wie deiner“, grinste er und zeigte auf meine Spickzettel, die ich sorgfältig in verschiedenen Hosentaschen verteilt hatte. „Ich hatte gestern keine Lust zu pauken und habe den ganzen Abend in Köln verbracht. Kennst du Pascha in Köln?“ „Nein“, erwiderte ich, „Sollte ich?“ Jörg musterte mich mit einem leichten Lächeln und fast mitleidig. „Da musst du noch an deiner Integration arbeiten“, meinte er. „Mein Ausflug nach Köln hat sich jedenfalls gelohnt. Ich hatte nicht nur Spaß, sondern habe auch diese Krawatte mitgenommen, die ein Bekannter dort vergessen hat. Sie ist gleich mein Plan B geworden.“ Er lächelte geheimnisvoll, aber ich hatte bereits andere Gedanken – der bevorstehende Test ließ mir keine Ruhe.
Der Test begann wie gewohnt. Der Dozent, ein modisch gekleideter Mann um die vierzig, ging von Tisch zu Tisch und verteilte die Prüfungsbögen. Als er an Jörgs Tisch kam, fixierte er dessen Krawatte und schien seinen Blick nicht mehr davon abwenden zu können. Jörg strich selbstzufrieden über seinen Bauch und sagte leise zum Dozenten: „Es ist immer schön, alte Bekannte dort zu treffen, wo man sie nicht erwartet.“ Der Dozent zuckte unwillkürlich zusammen, wurde rot, seine Augen flackerten nervös. Er legte zweimal seinen Zeigefinger an die Lippen und schüttelte unauffällig den Kopf. Währenddessen suchte ich hektisch in meinen Hosentaschen nach den Notizen für die erste Frage und beneidete die Frauen im Kurs, die meiner Meinung nach viel bessere Versteckmöglichkeiten für Spickzettel hatten. Ich sah nur noch, wie Jörg dem Dozenten zweimal unauffällig zunickte und warum auch immer über die erste Seite des Tests strich.
Nach zwei Stunden intensiver Konzentration stand ich endlich auf, gab meine Antworten ab und traf Jörg an der Bushaltestelle, wo er bereits eine Weile auf der Bank auf mich gewartet hatte. „Du hast nur eine Stunde für alle Antworten gebraucht? Respekt“, sagte ich zu ihm. „Ich habe mich nicht sonderlich angestrengt. Mein Plan B hat wohl funktioniert, Pascha sei Dank“, erwiderte er.
Die Ergebnisse des Tests erhielten wir ein paar Wochen später. Ich war mit meiner Note 3 mehr als zufrieden, während Jörg seine 1 als selbstverständlich hinnahm. Offensichtlich war sein Plan B besser als meiner, dachte ich. Toll, wenn man so gute, einflussreiche Bekannte hat wie diesen Pascha aus Köln, die einem wirklich helfen können.

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