Veröffentlicht: 31.10.2024. Rubrik: Grusel und Horror
Der Vampir im Keller
Zwischen achtlos auf dem Boden geworfenen Spielzeugen lagen in Tims Kinderzimmer kreuz und quer Comichefte herum. Zum größten Teil handelte es sich dabei um Superheldencomics. Während Tim ihnen in der Küche seiner Eltern ein paar Erdnussbuttersandwichs schmierte, bahnte Kevin sich einen Weg durch das unaufgeräumte Zimmer seines besten Freundes. Eilig ging er die Titel der einzelnen Comics durch. Heute interessiert Kevin sich weder für Batman, Spiderman oder die fantastischen Vier. Heute war der 31 Oktober, Halloweennacht! Heute wollte er ein paar wahrhaft unheimliche Geschichten lesen. Zombies, Werwölfe, Geister, Vampire, je gruseliger, desto besser. Nachdem er fast das ganze Zimmer abgesucht hatte, fand Kevin endlich etwas, das seinem Geschmack entsprach. Halb von Gummitieren begraben lag dort Comicheft mit dem Titel Geschichten aus dem Schattenreich 3. Auf dem Cover war ein Forscherehepaar abgebildet, das schreiend in einer Gruft vor einem sich öffnenden Sarkophag stand, aus dem gerade eine zum Leben erwachte Mumie stieg. „Klasse!“, rief Kevin. Zufrieden hob er das Comicheft auf und begann darin zu blättern.
Wenige Augenblicke später kehrte Tim in sein Zimmer zurück. Der blonde Junge hielt einen großen Teller mit mehreren Sandwichs. Zwischen den doppelten Weißbrotscheiben konnte man jeweils eine dicke Erdnussbutterschicht erkennen. Tim musste ein ganzes Glas von dem süßen Brotaufstrich verwendet haben. Freundlich lächelnd hielt er Kevin den Teller hin, der dankbar nickend eines der Erdnussbuttersandwichs in seine freie Hand nahm.
„Wie ich sehe, hast du einen Comic gefunden, der dich interessiert“, stellte Tim fest. „Kannst es behalten, wenn du magst.“
„Echt!“, entgegnete Kevin. „Danke.“
Tim stellte den Teller auf den Boden vor Kevin und setzte sich im Schneidersitz seinen Freund gegenüber. „Ich steh nicht auf dieses Horrorzeug. Mein Vater hat mir von einer seiner letzten Reisen einen ganzen Stoß davon mitgebracht. Hab kein einziges davon gelesen.“
Ein breites Lächeln legte sich auf Kevins Mund, als er seinen Freund erwartungsvoll ansah. „Kann ich die anderen Hefte der Serie auch noch haben?“
„Meinetwegen“, antworte Tim, nachdem er von einem Erdnussbuttersandwich abgebissen hatte. „Ich habe diese Horrorhefte allerdings nicht hier oben. Vor ein paar Wochen hab ich sie mit dem ganzen anderen Kram, den ich nicht mehr brauche, in einen Karton gepackt und runter in den Keller getragen. Um ehrlich zu sein wundert es mich, dass dieses Exemplar hier rumgelegen hat. Muss es wohl vergessen haben.“
„Kannst du sie nicht eben hoch holen?“
Tim überlegte kurz und schüttelte dann theatralisch den Kopf. „Es ist draußen schon dunkel. Niemals würde ich bei Nacht in diesen verfluchten Keller gehen. Dort unten haust ein Vampir.“ Seine Worte unterstrich der elfjährige Junge mit einem grellen Kichern.
„Du verarscht mich!“, erwiderte Kevin eingeschnappt.
„Dann hol dir die Comics doch selber aus dem Keller. Den Kellerschlüssel findest du draußen im Korridor, in der oberen rechten Schublade der Kommode. Die Hefte sind in einem Karton, auf dem mit Filsschreiber mein Name geschrieben steht. Ich lese solange hier in meinem Lieblingsspidermancomic, während ich für dich inständig hoffe, dass der Vampir bereits in diese kalte Halloweennacht ausgeflogen ist.“
Ohne etwas zu erwidern stand Kevin auf und verließ das Zimmer seines Freundes, um sich den Kellerschlüssel zu holen.
Auf Anhieb fand der Junge den Schlüssel in der Kommodenschublade. Damit schloss er die Tür zum Hauskeller auf. Seine rechte Hand betätigte einen Lichtschalter an der Seite. Das müde Licht einer Deckenlampe erhellte die hölzernen Stufen eines nach unten führenden Treppengangs. Kevin hielt kurz inne. Auch wenn er wusste, dass Tim Quatsch gemacht hatte, musste er schlucken. Es gab keine Vampire. Erst recht nicht im Keller des Hauses der Eltern seines besten Freundes. Sich dies einredend ging Kevin die Holzstufen hinunter, die unter seinem Gewicht zu knarren begannen.
Irgendwann war Kevin zusammen mit Tim und dessen Vater schon einmal hier unten gewesen. Daher wusste er, dass es kein gewöhnlicher Keller wie der seiner eigenen Eltern war. Tims Vater war so etwas wie ein reisender Antiquitätenhändler. Mehrmals im Jahr reiste er irgendwo in der Welt herum, um besondere alte Gegenstände zu möglichst günstigen Preisen zusammenzutragen und diese dann teurer weiterzuverkaufen. Manche Dinge, für die Tims Vater nicht direkt einen Abnehmer fand, lagerten hier unten. Statt Weinflaschen oder Werkzeugkisten sah man hier unten eher antike Möbel, neben afrikanische Holzfiguren, die vor vielen Jahren in aufwendiger Handarbeit entstanden waren.
So war es auch dieses Mal. Als erstes fiel Kevin eine zwei Meter lange Holzkiste mit zwei eisernen Riegelvorrichtungen ins Auge. Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengrube ging Kevin daran vorbei. Nachdem seine Augen kurz den inoffiziellen Antiquätetenladen absuchten, fanden sie den Karton mit der Aufschrift TIM. Der Umzugskarton stand auf einem kleinen Tisch, der ausnahmsweise keine kostbare Antiquätet war. In freudiger Erwartung öffnete Kevin ihn und begann darin zu suchen. Unter einer Sammlung alter Bilderbücher wurde der Junge fündig. Ein Stapel von einem guten Dutzend Comics der Reihe Geschichten aus dem Schattenreich lag dort. Zufrieden nahm Kevin den Heftstapel heraus und legte den Rest wieder so zurück, wie er ihn vorgefunden hatte. Gerade als er den unheimlichen Keller schnell wieder verlassen wollte, glaubte Kevin ein eindringliches Flüstern in seinem Kopf zu hören.
„Halte ein, Junge! Komm und entriegle die Kiste. Befreie mich aus meinem Gefängnis.“
Kevin wollte der Stimme in seinem Kopf wiederstehen und schreiend loslaufen, doch ein fremdbestimmter Drang nahm von ihm Besitz und war stärker als der Wille des Jungen. Die Comichefte entglitten seinen Händen und fielen zu Boden. Dann ging Kevin, ohne seine eigenen Schritte zu steuern, auf die lange Holzkiste zu, die mehrere Jahrhunderte alt war. Seine schweißnassen Hände schoben den ersten der zwei Eisenriegel aus seiner Halterung. Bevor Kevin sich dem zweiten Riegel zuwandte, versuchte der Junge sich noch einmal gegen die Macht, die ihn lenkte, aufzulehnen, was einen brennenden Schmerz in seinem rechten Unterarm auslöste, der ihn krampfhaft zusammenzucken ließ. Schmerzverzehrt schrie Kevin auf. Als seine Hand ohne sein Zutun nach dem zweiten Riegel griff, endete der Schmerz so abrupt wie er entstanden war.
Der lange Deckel der uralten Holzkiste sprang auf. Augenblicklich schlug Kevin der modrige Geruch alter Erde entgegen. Die Macht, die den Jungen willenlos hatte handeln lassen, ließ ihn im gleichen Moment los. Kevin war jedoch zu geschockt, um schnell genug die Flucht antreten zu können. Bevor Kevin begriff was mit ihm geschah, schossen zwei Arme aus der sargartigen Kiste heraus, deren Klauenhände den Jungen packten und ihn in die Kiste hinunterzogen. Einen Atemzug später fand Kevins panischer Schrei ein jähes Ende.
Tim saß noch immer in seinem Zimmer auf dem Boden und las in einem Spidermancomic, als Kevin vor ihm in dem offenen Türrahmen erschien.
„Da bist du ja endlich“, sagte Tim, als er von seinem Comicheft aufsah. „Du warst ziemlich lange unten im Keller. Hast du die Hefte in dem Karton gefunden?“
Statt zu antworten hob Kevin seinen gesenkten Kopf. Erst jetzt stellte Tim fest, dass die Augen seines besten Freundes in einem dämonischen Weiß leuchteten. Alles menschliche schien aus ihnen gewichen zu sein.
„Was für irre Kontaktlinsen!“, rief Tim begeistert. „Hammer Halloweenscherz!“
„Das ist kein Halloweenscherz“, erwiderte Tim mit einer Stimme, die sich ganz und gar nicht wie seine eigene anhörte. „Du hattest wirklich recht. Im Keller deiner Eltern haust ein Vampir. Er hat sich mir gerade vorgestellt. Nun will er auch dich kennen lernen.“
Mit diesen Worten trat Tim zur Seite. Er machte einer fratzengesichtigen kahlköpfigen Gestalt platz, die einen langen schwarzen Mantel trug und einem Alptraum entsprungen zu sein schien. Schreiend sah Tim, der vor Schreck erstarrte, wie der Fremde in sein Zimmer trat und auf ihn zukam. Der Mund des Vampirs öffnete sich und offenbarte zwei spitze Fangzähne. Ein Herzschlag später umfing Tim der schwarze Stoff des Vampirmantels. Einen Augenblick lang sah Tim nichts außer absolute Schwärze. Dann tauchte die grässliche Fangzahnfratze direkt vor ihm aus der Dunkelheit auf. Obgleich ihr Anblick aus der unmittelbaren Nähe noch grauenerregender war, verstummten die Schreie des Elfjährigen augenblicklich. Tim war, als ob eine fremde Macht von ihm Besitz ergriff. In Bann der Augenglut des Untoten gefangen, war es den unter Trance stehenden Jungen nicht mehr möglich sich zu rühren. Dann bohrten die Fangzähne des Vampirs sich tief in seinen Hals.