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geschrieben von Markus Luthardt (Lutti).
Veröffentlicht: 25.11.2023. Rubrik: Aktionen


Der gestrandete Wal

An einem warmen Abend im Spätsommer, als die Sonne rot im Meer versunken war, während ihr letztes flammendes Aufbegehren gegen die heranrückende Nacht am südlichen Horizont nachwirkte, sah ich durch das große Fenster meiner Bibliothek auf den weißen Strand hinaus. Vor Unglauben die Augen reibend, entdeckte ich den Körper eines alten Grauwals, der bewegungsunfähig im Sand der Brandung lag. So nah und doch so unerreichbar fern von dem Element, in das er gehörte, war der Gigant der Meere dort unten gestrandet, wo er allmählich sein Leben aushauchte.
„Armes Tier“, dachte ich. „Es muss die Orientierung verloren haben.“
Tränen rannen aus meinen Augen, als ich aus dem Haus hinaus, den Pfad zum Strand hinuntereilte. Ein Stück vor dem Wal blieb ich stehen, dessen rechtes Auge mich traurig ansah. Mir war, als ob er spürte, welch großes Mitleid ich empfand. Zu gern hätte ich ihn ins Meer zurückgeschoben, doch ein solcher Kraftakt war ein unmögliches Wunder, das selbst hundert Männer nicht zustande brächten. Bis auf ein paar Krabben, die über den Strand huschten und ein halbes Dutzend schreiender Möwen oben am Himmel, war ich mit dem gestrandeten Wal allein.
Mir ein Herz fassend, gab ich die Distanz auf und berührte die Haut des sterbenden Grauwals. Die letzten Stunden, Minuten, Augenblicke wollte ich an seiner Seite bleiben, damit der König der Tiefe in der furchtvollen Zeit des Übergangs wenigstens keine Einsamkeit verspürte. Da es mir sonst nicht möglich war dem Wal zu helfen, ließ ich mich neben ihm im nassen Sand nieder. Sanft streichelte ich das dem Tod geweihte Tier. Ruhig sprach ich zu ihm. Obwohl Wale die Sprache der Menschen genauso wenig verstanden, wie wir ihren wunderbaren Gesang, fühlte ich, wie der Klang meiner Stimme beruhigend auf ihn wirkte.
Ich weiß nicht wie viel Zeit verging, doch als ich wieder zum Himmel aufsah, herrschte dort der funkelnde Sternenmantel einer tiefen Nacht. Die Lider meiner Augen wurden schwerer. Verzweifelt versuchte ich mich gegen den drohenden Schlaf zu stemmen, denn ich spürte immer noch Leben im Körper des Wals und ich wollte ihn um nichts in der Welt in seiner letzten Nacht allein lassen. Diesen Kampf verlor ich, denn irgendwann glitt mein Geist auf den Schwingen eines Traums davon.
Plötzlich regte sich der Leib des Wals. Ich riss die Augen auf und sah ihn verwundert an. Sein mir zugewandtes Auge funkelte vor erwachender Energie. Nun war er es, der mich mit seiner Seitenflosse berührte. Von einer geheimnisvollen Macht getragen, wurden der Wal und ich emporgehoben. Unter uns wuchs die Entfernung zum Strand und dem angrenzenden Meer, während wir immer weiter zum Firmament mit seinen funkelnden Gestirnen hinaufflogen. Ich empfand keine Angst, denn mein Walgefährte war bei mir.
Es dauerte nicht lang bis wir die Grenze der Erdatmosphäre durchflogen und weiter ins Weltall aufstiegen. Der wohlwollende Zauber, der von meinem Gefährten ausging, bewirkte, dass ich atmen konnte und mir die kosmischen Gegebenheiten nichts ausmachten. Unser Flug ging weiter, vorbei an Sternenprinzen, die im Dunkel des Alls prächtig funkelten. In einiger Entfernung entdeckte ich eine Lichterscheinung, die ich für ein Polarlicht hielt. Als mein Freund und ich weiter darauf zu schwebten, wuchs in mir die Erkenntnis, dass es sich um eine Art kosmischen Fluss handelte, in dem die Geister hunderter Wale schwammen.
„Ist das der Ort, zu dem die Seelen deiner Art nach ihrem irdischen Ableben wandern?“, fragte ich meinen Gefährten. Der Wal antwortete mit einem Gesang, den ich verstand, denn vor meinem geistigen Auge sah ich die Geister verstorbener Meeressäuger, die in dem kosmischen Fluss aufgenommen wurden.
Die unterschiedlichsten Wale, sowohl große als auch kleine, waren in dem zauberhaften Lichtfluss zu sehen. Als mein Gefährte und ich weiter darauf zuglitten, wurden die Tiergeister auf uns aufmerksam und stimmten einen gemeinsamen Gesang an, dessen Wohlklang mich dermaßen berührte, dass er in mir ein wunderbares Gefühl der Wärme erzeugte.
In dem kosmischen Lichtstrom schwammen wir mitten unter den Geistern der Meeressäuger. Einige suchten neugierig unsere Nähe. Obwohl ich kein Wal war, akzeptierten sie mich wie einer von ihnen. Ich konnte in ihre funkelnden Augen blicken, die mir eine Freundlichkeit entgegenbrachten, wie ich sie nie gekannt hatte. Manche Walgeister berührten mich mit den Enden ihrer Seitenflossen und gewährten meiner Seele so einen flüchtigen Blick in ihr vergangenes Leben, dass sie in den Tiefen der Ozeane und Meere verbracht hatte. Einen Wal sah ich, wie er gegen einen achtarmigen Riesenkraken kämpfte, ein anderer Geist wurde im Leben von einem Walfänger gejagt. Spitze Harpunen stießen in sein Fleisch. Wasser färbte sich rot vor Blut, bevor der König ein qualvolles Ende fand. Der Wal ließ mich seine letzten Momente mitempfinden. Trotzdem schien er keinerlei Zorn gegen mich zu verspüren. So wurde der Schmerz genauso schnell von einem Gefühl der Vergebung verdrängt, das mich mit seiner wohltuenden Kraft durchströmte.
Ein anderes Mal wurde ich zum Zeugen einer Geburt. Eine Walmutter, die sich mit ihrem Kalb auf die Reise des Lebens begab. Vorbei an bunten Korallenriffen, die vor mediterranen Leben nur so strotzten, aber auch durch dunkle unergründliche Tiefen. Von den warmen Tropen bis zu eisigen Polarregionen führte die Reise. Bei all den verschiedenen Erlebnissen war ich die ganze Zeit über froh, den Geist meines Freundes neben mir zu wissen.
Urplötzlich verschwamm alles um mich herum, wie eine Fata Morgana in der Wüste. Ich riss die Augen auf, wobei ich einen hastigen Atemzug machte, der meine Lungen durchströmte. Noch etwas benommen hörte ich das Rauschen des anbrandenden Meeres. Ich sah zum Himmel hoch und stellte fest, dass der Morgen graute. Da wurde mir bewusst, dass ich wieder am Strand lag. Alarmiert regte ich mich im nassen Sand und kam nach kurzem Kampf auf die Beine. Dann nahm ich meinen Mut zusammen und blickte zur Seite. Der Grauwal neben mir war tot. Sein Auge blickte ins Leere. Kein Lebensfunke ging mehr davon aus. Eine tiefe Trauer überkam mich und ich brach in Tränen aus. So hatte ich den letzten Augenblick im Leben des Meeresriesen verschlafen. Das quälende Gefühl von Schuld schnitt auf einmal wie ein scharfes Schwert durch meine Seele. Kopfschüttelnd vergrub ich das Gesicht in den Händen, während ich verbittert den salzigen Geschmack meiner Tränen schmeckte.
Noch bevor die letzte Träne getrocknet waren, glaubte ich über mir den wunderbaren Gesang meines Walgefährten zu hören. Verwundert riss ich meinen Kopf hoch und konnte kaum glauben was ich da sah. Über mir schwebte die halbdurchsichtige Erscheinung des riesigen Tiergeistes. Der vordere Teil seiner Gestalt neigte sich zu mir hinunter. Die kosmische Reise der vergangenen Nacht war mehr als nur ein Traum gewesen. Der Geist des Grauwals hatte mich auf die Wanderung zu jenem Ort mitgenommen, wo die Seelen der Verstorbenen seiner Art existieren. Er hatte mich zur Erde geleitet, damit mein Geist in meinen lebenden Körper zurückkehrte. Nun da dies vollbracht war, berührte mich eine seiner Flossen ein letztes Mal und ließ alle Last von mir abfallen. In diesem Moment verspürte ich die Kraft seiner Zuneigung. Dann beschrieb die Erscheinung des Walgeistes über mir einen nach oben geneigten Halbkreis, so als ob er wieder in der Tiefe des Meeres schwamm, worauf er immer weiter gen Himmel aufstieg. Freudestrahlend stand ich am Strand und sah ihm so lange nach, wie es meinen Augen möglich war. In dem Wissen, dass das Band der Freundschaft, das in der vergangenen Nacht zwischen dem Wal und mir geschaffen wurde, über die Grenzen von Leben und Tod hinaus für immer bestand haben würde, kehrte ich zu meinem Haus zurück.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Babuschka am 26.11.2023:
Kommentar gern gelesen.
Sehr gerne und berührt gelesen, diese märchenhafte, wundervolle Geschichte von über das irdische Leben hinausgehender Freundschaft.
LG Babuschka

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