Veröffentlicht: 31.10.2023. Rubrik: Grusel und Horror
Der Springteufel Teil 6 (Finale)
„Jamie!“, rief eine entfernte Stimme. „Jamie, du musst aufwachen!“ Dieses Mal schien die Stimme wesentlich näher zu sein. Ein Rütteln, das den Oberkörper des Jungen erschütterte folgte. „Jamie, öffne die Augen!“, wiederholte die Stimme direkt über den Jungen. Jamie, der im ersten Augenblick glaubte aus einem fernen Traumreich gerissen zu werden, öffnete seine Augenlider, auf denen eine schwere Last zu drücken schien, einen Spalt weit. Zunächst erkannte Jamie nicht mehr als milchige Schemen. Erst nach und nach wurde sein Blick klarer. Er erkannte, dass er in seinem Bett lag. Über ihn gebeugt stand Edgar, der mit den Händen seine Schultern berührte. Als der Butler sah, dass der junge Herr endlich erwacht war, ließ er ihn los. Obwohl seine Augen zur Gänze geöffnet waren, fühlte Jamie sich ungewöhnlich matt und auch irgendwie benommen. Es war eine Benommenheit, die nur ganz allmählich von ihm wich, so als ob er gestern Abend starke Schlaftabletten zu sich genommen hätte. Bei dem Versuch sich im Bett aufzusetzen, merkte Jamie was für ein Kraftakt diese ansonsten simple Aktion in diesem Moment für ihn war. Unter der Mitwirkung von Edgars helfenden Händen gelang es ihm schließlich. „Was ist denn los?“, fragte Jamie verwirrt.
Gerade als Edgar ihm antworten wollte, schwang die angelehnte Tür zu seinem Zimmer auf und ein Mann in einem grauen Parker sah in das Zimmer, den Jamie nicht kannte. Sein leicht ergrautes dunkles Haar trug der Fremde mit dem abschätzenden Blick nach hinten gekämmt.
Edgar wandte sich zu dem Mann um. „Der Junge ist aufgewacht. Bitte geben Sie uns noch ein paar Minuten. Ich bringe ihn gleich raus.“
Der Fremde nickte kurz und schloss die Tür zu Jamies Zimmer. „Wer war das?“, fragte Jamie stirnrunzelnd.
Edgar erbleichte und strich sich nach Worten ringend durch die Haare. „Das ist ein Detektiv der Mordkommission. Stehen Sie erst einmal auf und ziehen Sie sich an. Da draußen sind noch mehr Ermittler und die Spurensicherung geht auch durch das Haus. Man wird ein paar Fragen an Sie haben.“
„Ich verstehe nicht?“, erwiderte Jamie, als er sich von der Bettkante erhob.
Mit einem Stofftaschentuch wischte Edgar sich mehrere Schweißperlen von der Stirn. „Sie müssen nun sehr tapfer sein. In der vergangenen Nacht muss jemand fremdes zunächst auf das Anwesen und dann in das Haus eingedrungen sein. Im Moment werden noch die Videoaufnahmen der Überwachungskameras ausgewertet. Wahrscheinlich handelte es sich um einen professionellen Killer. Ihre Eltern sowie der Securitymann Joe wurden...“ Edgar stockte. Mit den Armen zitternd, rang der Butler um Fassung. „Sie wur... wurden ge... getötet.“
Jamie sah Edgar verwirrt an. „Was?“ Der Junge schüttelte den Kopf. „Wenn Sie sich da gerade einen Scherz mit mir erlauben, dann ist dieser aber voll daneben, Edgar.“ Zorn trat auf Jamies Gesicht, der einen Augenblick später jedoch blankem Entsetzen wich. Die Körpersprache des Butlers war zu eindeutig, um auch nur anzunehmen, seine Worte seien ein schlechter Scherz. „Mama!“; schrie Jamie. Obwohl der Junge nur mit T-Shirt und Slip bekleidet war, wollte er aus dem Zimmer stürmen. Edgar, der anders als man es von einem Butler erwartete, durchaus muskulös gebaut war, stellte sich ihm in den Weg. Als der Junge versuchte an ihn vorbeidrängen, nahm Edgar ihn in die Arme und drückte ihn tröstend an sich. Jamie, der diese körperliche Nähe zu dem Bediensteten nicht gewohnt war, schrie nochmals auf. „Bitte, seien Sie vernünftig, junger Master“, flehte Edgar ihn an. „Ich lasse nicht zu, dass Sie Ihre Eltern so sehen.“
Jamie sträubte sich noch eine Weile, bevor er den trostspendenden Halt den Edgar ihm bot, annahm. Schluchzend brach der Junge in Tränen aus. Sanft strich der Butler ihn mit einer Hand durch die Haare. „Es tut mir so unsagbar leid“, flüsterte Edgar mit ruhiger Stimme. „Weinen Sie ruhig. Lassen Sie Ihren Schmerz heraus.“
Es vergingen zwei, drei Minuten, bis Jamie sich beruhigt hatte. Er ging zu dem Stuhl, auf den seine Sachen lagen und zog seine Jeans und ein Paar Hausschuhe an. „Ich bin bereit, wir können nach draußen gehen“, sagte der Junge, wobei er sich die letzten Tränenspuren aus dem Gesicht wischte. Edgar antwortete mit einem Nicken. Der Butler ging voraus und öffnete die Tür des Kinderzimmers. Jamie folgte ihm auf den Gang hinaus. Der Detektiv in dem Parker wartete hier wenige Meter von Jamies Zimmer entfernt. Er setzte einen betroffenen Blick auf und nickte den beiden zunächst schweigend zu. Edgar, der dicht an Jamies Seite stehen blieb, machte dem Jungen mit einem Schulterklopfer Mut. Nachdem der Mordermittler sein Beileid bekundet hatte, trat er so nah an Jamie heran, dass der Junge den Geruch von billigen Aftersafe riechen konnte. Ihm wurden mehrere Fragen gestellt, die den gestrigen Abend betrafen und ob er in der Nacht von irgendwelchen Geräuschen aus dem Schlaf aufgeschreckt worden war. Da er noch immer das Gefühl hatte, die Benommenheit nach dem Erwachen nicht zur Gänze losgeworden zu sein, beantwortete Jamie diese Frage mit einem klaren „Nein.“ Es war ausgeschlossen, dass er aus dem besinnungslos anmutenden Schlaf auch nur für einen Sekundenbruchteil erwacht war und wenn doch, so fehlte ihm jegliche Erinnerung daran.
Die übrigen Worte des Detektivs klangen in Jamies Ohren wie sinnloses Gestammel. Mit einem Ohr nahm er sie zwar noch wahr und er gab auch noch ein paar unbewusste Antworten, die in der Regel aus einem einzigen Wort bestanden. Innerlich trat Jamies trauernder Geist die Flucht an. Aus dem offenen Zimmer seiner kleinen Schwester hörte er mit dem anderen Ohr Kathys schluchzendes Weinen. Die leise Stimme einer Frau tröstete das kleine Mädchen. Jamie identifizierte sie als die Stimme seiner Tante Susan. Die jüngere Schwester seiner Mutter musste von dem Tod seiner Eltern bereits früh am Morgen erfahren haben und war aus der mehr als 50 Meilen entfernten Stadt, in der sie wohnte, hierhergeeilt. Zu dem unguten Gefühl und der Trauer, mischte sich nun auch noch ein schlechtes Gewissen, weil er so lange geschlafen hatte. Leicht zornig sah Jamie zu Edgar. Warum hatte der Butler nicht schon früher versucht ihn zu wecken? Gleich darauf kam ihn jedoch der Gedanke, dass dieser Morgen auch für Edgar das schlimmste sein musste, was der arme Mann je in seinem Beruf erlebt hatte. Die Situation war für alle furchtbar genug und Jamie beschloss sich in keine Nebensächlichkeit hineinzusteigern.
Als der Detektiv seine Fragen abgeschlossen hatte, endete er mit der Anmerkung, dass er wahrscheinlich zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal mit Jamie und seiner jüngeren Schwester reden müsste. Dann entschuldigte sich der Kriminalbeamte bei Jamie und Edgar, da er sich bei seinen Kollegen über den Stand der Ermittlungen erkundigen wollte. Nachdem er fort war, wandte Edgar sich zu Jamie um und legte dem Jungen eine Hand auf die linke Schulter. „Möchten Sie zu Ihrer Schwester und Ihrer Tante?“ Jamie nickte.
Tante Susan schloss Jamie in ihre Arme, nachdem er mit Edgar Kathys Zimmer betreten hatte. Obwohl Jamie in den Jahren zuvor nie einen besonders guten Draht zu seiner Tante aus einfachen Verhältnissen gefunden hatte, genoss er in diesem Augenblick die Nähe zu ihr.
„Oh Jamie, es tut mir so leid“, sagte Tante Susan mit Wahrhaftigkeit in der Stimme. „Von jetzt an werde ich mich um euch Kinder kümmern, das verspreche ich.“
Das vertraute Tapsen von Pfoten, gefolgt von einem Bellen, drang während der Umarmung an Jamies Ohren. Aus dem Winkel seines linken Auges sah Jamie wie Edgar in die Hocke ging und etwas vom Boden aufhob. Nachdem der Junge sich aus der Umarmung seiner Tante löste, stellte er fest, dass es Cherry war, die der Butler in seinen Armen hielt. Als Jamie den Butler ansah, hielt Edgar ihm das Pudelweibchen hin.
„Hier ist Cherry“, sagte Edgar. Nachdem Jamie den kleinen Hund aus den Armen des Butlers genommen hatte, leckte ihn Cherry über die linke Wange. „Sie hat die vergangene Nacht überlebt“, erklärte der Butler. „Obwohl Cherry dem Mörder begegnet sein muss, denn auch sie hat eine Verletzung davongetragen.“ Edgar deutete auf das Wundmahl oberhalb von Cherrys linkem Bein, über dem sich eine Kruste aus getrocknetem Blut gebildet hatte. Sorgenvoll strich Jamie behutsam mit einem Finger darüber hinweg. Später, wenn sich die Aufregung im Haus etwas gelegt hat, fahre ich Sie zu einem Tierarzt“, fuhr Edgar mit einem Augenzwinkern fort. Nachdenklich streichelte Jamie durch das krause Fell des Pudelweibchens, das in den Armen des Jungen glücklich mit dem Schwanz wackelte. Gerade als Edgar sich zum Gehen umdrehte, um das Zimmer des Mädchens zu verlassen, wurde er am Rücken angetippt. Als der Butler stehen blieb und sich abermals herumdrehte, sah er, dass es Jamie war. In dem Gesicht des Jungen las Edgar, dass er ihm unbedingt noch etwas sagen wollte, was aber nur für seine Ohren gedacht war. Edgar neigte seinen Oberkörper ein Stück hinab, damit sein linkes Ohr auf gleicher Höhe mit dem Mund des Jungen war. „Halten Sie mich bitte nicht für verrückt“, begann Jamie zu flüstern. „Aber ich glaube, dass die Springteufelpuppe aus dem Holzkasten für die Morde an meinen Eltern verantwortlich ist.“
Stirnrunzelnd strich Edgar durch die Haare des Jungen. Dann verließ er, ohne noch etwas zu sagen Kathys Zimmer. Draußen auf dem Gang blieb Edgar jedoch nochmals stehen, um sich die beiden Seiten seiner Stirn zu massieren, während er angestrengt nachdachte. Er hielt Jamie alles andere als verrückt. Seine Worte hatten nur das ausgesprochen, was Edgar bereits die ganze Zeit über im Kopf herumgespuckt war. Etwas stimmte mit diesem verfluchten Kästchen und dessen grässlich Inhalt nicht. Edgar hatte zugelassen, dass Jamie etwas abgrundböses in das Haus der Gibsons schleppte. Er musste hart schlucken. Allein bei dem unheilvollen Gedanken glaubte er, dass seine Eingeweide sich schmerzvoll verknoteten.
Zwei Stunden später, als die Leichen der Gibsons und ihres Bodyguards längst abtransportiert waren und die Spurensicherung ihre Arbeit abgeschlossen hatte, unternahm Edgar einen Rundgang über das Gelände des Anwesens. Die Worte des Jungen gingen ihm die ganze Zeit über nicht aus dem Kopf. Eigentlich gehörte der Butler nicht zu jenen Menschen, die an übersinnliches glaubten, doch Jamie war, trotz all seiner Träumereien, ein intelligenter Junge und kein halluzinierender Spinner. Auf eine traumatische Weise hatte seine Stimme so eindringlich geklungen. Vor allem folgte Edgar seinem eigenen düsteren Gefühl, als er einen Baseballschläger zur Hand nahm, den er in einer zu einem Lagerraum umgebauten Scheune fand. Damit eilte er in das Haus zurück. Schnellen Schrittes durchquerte er die Eingangshalle, um dann durch den angrenzenden Korridor auf die Treppe zuzustreben, über die man in die obere Etage gelangte. Niemand begegnete dem Butler auf seinem Weg die Treppe hoch. Seit die Ermittler gegangen waren, wirkte das Haus wie ausgestorben. Jamie und Kathy saßen zusammen mit ihrer Tante in dem großen Wohnzimmer. Kaum ein Wort kam über ihre Lippen, während sie traurig ihre gegenseitige Nähe suchten. Die übrigen Bediensteten des Hauses waren zwar zur Arbeit erschienen, doch wirkten sie wie paralysiert. Keiner von ihnen wusste, wie es nach dem Tod der Gibsons weitergehen sollte.
Den Griff des Baseballschlägers noch fester in der Hand umschließend, stürmte Edgar die Stufen empor. In ihm gärte der Wille, die Existenz des unsäglichen Kästchens und seines Inhalts gewaltsam zu beenden. Oben angekommen lief er durch den Korridor zu dem hinteren Zimmer des Jungen. Da er wusste, dass Jamie sich nicht in dem Raum aufhielt, drückte er anders als es sonst seine Art war, ohne anzuklopfen die Türklinke hinunter. Mit einer kraftvollen Bewegung seiner freien Hand ließ er die Tür in das Rauminnere aufschwingen. Mit weit aufgerissenen Augen stürmte er in Jamies Zimmer, um die Box des Springteufels vom Nachttisch zu nehmen und auf dem Boden mit einem gezielten Schwinger des Baseballschlägers zu zertrümmern. Auf halbem Weg stockte der Butler in der Bewegung und blieb mit offnem Mund stehen. Verwirrt senkte Edgar den Baseballschläger in seiner Hand. Ungläubig schüttelte er den Kopf. Das Kästchen war verschwunden.
Der Mann, der sich Harry nannte, saß an einem der hinteren Tische von Mary’s Diner. Der Aktenkoffer mit dem Geld seines Auftraggebers lag unter seinem grauen Mantel, den er ausgezogen hatte, links neben ihn auf der rot gepolsterten Bank. Die Seitengasse, in der auch bei der zweiten Geldübergabe, die schwarze Limousine parken sollte, lag von hier nur einen Block entfernt. Da es bis zu dem vereinbarten Zeitpunkt noch über eine halbe Stunde hin war, war Harry in das Diner gegangen, um seinen morgendlichen Hunger mit einem kleinen Frühstück zu stillen. Außerdem wartete er auf eine Bestätigung, dass der Auftrag erledigt worden war. Immer wieder ging Harrys nervöser Blick zu der gegenüberliegenden Wand, wo schräg von ihm ein Fernseher hing. Ein Werbespot über Schokofrühstücksflocken lief gerade, doch Harry wartete auf den Beginn einer Ausgabe der Frühnachrichten. Er aß den letzten Bissen des Putenbrustsandwichs auf dem Teller vor sich und spülte ihn mit einem Schluck lauwarmen Kaffees hinunter. Als er gerade das gekochte Ei zur Hand nahm, das auf dem Tablett neben dem Teller lag und es ein paar mal leicht gegen die abgerundete Tischkante schlug, hörte er vom Fernseher her jene kurze Melodie, die vor einer Nachrichtensendung ertönte. Um nicht so sehr von den übrigen Geräuschen in dem Diner gestört zu werden, legte Harry das Ei auf das Tablett zurück und stand dann auf. Aufmerksam trat er näher an den Fernseher heran. Eine hübsche Nachrichtensprecherin, die ihre blonden Haare hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, saß an einem langen Pult in einem schmucklosen Nachrichtenstudio und begann, nachdem sie die Zuschauer begrüßt hatte, von einem Blatt Papier abzulesen, das vor ihr lag.
„Auf dem Anwesen des ehemaligen Gouverneurs Robert Gibson im Bundesstaat Ohio ist es in der vergangenen Nacht zu einer furchtbaren Bluttat gekommen. Der beliebte Politiker und einer der aussichtsreichsten Kandidaten für das Amt des nächsten Präsidenten, als auch seine Frau Ellen Gibson, sowie eine dritte männliche Person, bei der es sich wohl um einen Personenschützer in den Diensten der Gibsons gehandelt hat, wurden in den frühen Morgenstunden ermordet in dem alten Herrenhaus aufgefunden. Nach Angaben der örtlichen Polizei wurde das Ehepaar in verschiedenen Räumen mit mehreren Messerstichen regelrecht hingerichtet. Inzwischen hat das F.B.I. sich in Ermittlungen eingeschaltet, da eine Auftragstat nicht ausgeschlossen werden kann...“
Zufrieden grinsend kehrte Harry an seinen Tisch zurück. Die restlichen Worte der Nachrichtensprecherin hörte er nicht mehr bewusst. Der Auftrag war ausgeführt worden. Robert Gibson und seine Frau Ellen Gibson waren tot. Nun musste Harry sich gleich nur noch einmal mit der unheimlichen Kapuzengestalt treffen, den Aktenkoffer mit dem restlichen Geld übergeben und die Sache war erledigt. Er nahm das Ei von dem Tablett und schälte es. Aus einem Salzstreuer streute Harry eine Priese Salz auf das obere Ende, das er dann genüsslich von dem Ei abbiss.
„Noch etwas Kaffee, Süßer?“, riss ihn eine Frauenstimme aus den Gedanken. Eine junge Bedienung, die eine halbvolle Kaffeekanne in ihrer rechten Hand hielt, stand lächelnd neben ihn. Seine freie Hand auf die Kaffeetasse legend, sah Harry mit einem Augenzwinkern zu der jungen Frau auf. „Kein Kaffee mehr“, antwortete er. „Stattdessen hätte ich gern die Rechnung und deine Handynummer.“
Von dem Charmeanflug des Gastes überrascht, errötete die Bedienung leicht. „Kommt sofort“, sagte sie, wobei ihr Lächeln breiter wurde. Kurz nachdem Harry das Ei aufgegessen hatte, kam sie tatsächlich mit einem Rechnungsbeleg wieder. Unter dem Rechnungsbetrag von 6,49 Doller war mit Bleistift eine Nummer geschrieben worden. Harry legte einen Zehndollarschein auf den Tisch. „Der Rest ist für dich. Bis bald, Baby.“
Nachdem die Bedienung sich zurückgezogen hatte, nahm Harry Mantel und Aktenkoffer und verließ mit einem gutgelaunten Pfeifen das Diner. Über den Bürgersteig ging er ein Stück auf die nächste Straßenkreuzung zu. Auf dem Weg drängte sich ihm ein Gedanke auf. Was tat er da gerade. In dem Aktenkoffer, dessen Griff er in seiner Hand hielt, befanden sich vierhunderttausend Doller. Nicht genug Geld, um woanders für immer ein neues Leben zu beginnen, aber auf jedem Fall genug Geld, um woanders für mehrere Wochen oder Monate den höchsten Luxus zu genießen und so richtig die Sau rauszulassen. Harrys Bezahlung als Übermittler lag weit unter diesem Betrag. Sein Auftraggeber vertraute ihm offensichtlich. Andererseits was schuldete Harry seinem Auftraggeber, den er persönlich gar nicht kannte? Dem Empfänger des Geldes, bei dem Harry bezweifelte, dass es sich überhaupt um ein menschliches Wesen handelte, schuldete er erstrecht nichts! Der Auftrag war erledigt und konnte nicht mehr rückgängig gemacht werden. Niemand, der in den Auftrag involviert war, wusste wer Harry in Wirklichkeit war. Demnach war es logisch, dass niemand ihn verfolgen konnte, wenn er einfach untertauchte und die vierhunderttausend Dollar behielt. An die Polizei würde sich weder sein Auftraggeber noch dessen Partner wenden können.
Wenige Meter vor der Seitengasse, in der wahrscheinlich die Limousine bereits auf ihn wartete, blieb Harry abrupt stehen. Nachdenklich strich er sich mit seiner freien Hand durch die Haare. Mit sich selbst ringend, traf er eine Entscheidung. Harry drehte um und kehrte in die Richtung zurück, aus der er zuvorgekommen war. Doch in das Hotel, in dem er übernachtet hatte, würde der Mann, der sich Harry nannte, nicht zurückkehren. Sein Ziel war die nahegelegene Fiale einer Autovermietung.
Elf Tage später. Der Mann, der sich Harry genannt hatte, nannte sich nun Jim Arnold. Ein Bekannter, den er kontaktiert hatte, war ein Spezialist für Dokumentenfälschung. Für ein paar tausend Dollar hatte dieser ihm gefälschte Papiere unter dem Namen Jim Arnold beschafft. Da dieser Name ihm wesentlich besser gefiel als sein letzter Name, nahm er die neue Identität mit Freuden an.
Mehrere Tage war der neue Jim Arnold viele hundert Meilen gen Südwesten gefahren. Seit zwei Tagen residierte er in einem der nobelsten Hotels von Kalifornien, ganz in der Nähe von San Diego. Seit er von New York aufgebrochen war, hatte er einiges an Geld ausgegeben. Den größten Teil der vierhunderttausend Dollar besaß er jedoch noch und nach seiner Ansicht befand sich der Aktenkoffer mit seinem wertvollen Inhalt an einem Ort, an dem er vor dem Zugriff Zweiter sicher war.
Die Bedienung aus dem Brooklyner Diner hatte er nicht angerufen. Doch das war auch nicht nötig gewesen. Mit der Aussicht auf Luxus ließen sich überall andere junge Frauen anlocken. So hatte er sich an seinem ersten Abend in San Diego ein reizendes blondes Zwillingspärchen klargemacht. Die Namen seiner beiden Gespielinnen lauteten Lila und Lina. Er hatte sie dazu gebracht, die vergangene Nacht mit ihm in der sehr geräumigen Hotelsuite zu verbringen. Zu der Suite gehörte auch ein weißgekacheltes Luxusbadezimmer mit Whirlpool. An jenem Abend saß Jim Arnold zusammen mit Lina in dem sprudelnden Jacuzzibecken des Badezimmers. Beide waren nackt, schlürften Campanger und befummelten sich gegenseitig. An der Wand, die ein Stück hinter dem Whirlpool lag, befand sich ein großes Panoramafenster, durch das man über einen langen Sandstrand und auf den angrenzenden Pazifischen Ozean blicken konnte. Man brauchte jedoch nicht befürchten von draußen bei seinem Treiben beobachtet zu werden, nicht nur weil die Suite im 10 Stock des Hotels lag. Eine besondere Beschichtung auf der Außenseite des Fensters schützte vor neugierigen Blicken. Selbst ein Fensterputzer hätte sie von draußen nicht sehen können.
Lila hingegen war mit einem Bademantel bekleidet und hielt sich im Wohnbereich der Suite auf. Sie wartete hier auf den Zimmerservice. Jim Arnold hatte eine weitere Flasche Campanger und etwas zu essen für sie drei bestellt. „Machst du bitte auf, Lila!“, rief Jim Arnold schließlich, als im Badezimmer ein entferntes Klopfen von der Suiteeingangstür zu hören war. Daraufhin wandte er sich wieder Lina zu, die gerade ein Schluck Campanger aus einem Glas in ihrer Hand trank. Mit einem frechen Grinsen kniff er ihr in die rechte Brustwarze. „Jim Arnold, du böser Junge“, sagte Lina lächelnd. Leidenschaftlich küssten die beiden sich, wobei ihre Zungen sich gegenseitig massierten. Ein plötzliches Geräusch ließ Jim stocken. Aufhorchend wandte er sich von Lina ab. „Hast du das gehört?“, fragte er sie. Lina schüttelte den Kopf. Gleich darauf war jedoch ein deutlicheres Poltern von Eingangsbereich her zu hören. Ein erstickter Schrei folgte, der nur wenige Sekundenbruchteile andauerte.
„Ist alles in Ordnung, Lila?“, rief Jim mit einem verwirten Stirnrunzeln. Dieses Mal klang seine Stimme nicht mehr gelassen, sondern besorgt. Er beabsichtigte gerade aufzuspringen, um mit einem Handtuch um die Hüften nachzusehen, als er durch den offenen Durchgang einen Schatten im vorgelagerten Wohnbereich wahrnahm, der sich auf das Badezimmer zubewegte. Wenige Augenblicke später erschien Lilas Gestalt in seinem Blickfeld. Etwas stimmte allerdings ganz und gar nicht mit der jungen Frau, was auch Lina bemerkte, die aufgebracht den Namen ihrer Zwillingsschwester kreischte. Lilas Füße hatten den Kontakt zum Boden verloren. Es war, als ob sie mehrere Meter darüber hinwegschwebte. In Wirklichkeit wurde sie von den gewaltigen Händen eines hinter ihr befindlichen Schattens, durch den Raum getragen. Der Ausdruck auf ihrem sonst so schönen Gesicht hatte sich zu einer schmerzverzehrten Fratze mit bis zum Anschlag aufgerissenen Augen verzogen. Lilas Kehle war aufgeschlitzt worden. Ein Schwall warmen Blutes ergoss sich daraus auf den weißen Bademantel, den sie anhatte. Den letzten Atemzug ihres Lebens aushauchend erschlaffte Lilas Körper, als sie durch den Türrahmen in das Badezimmer getragen wurde. Sofort verteilte sich eine Spur ihres frischen Blutes auf den Fliesen.
Vor lauter Entsetzen begann nun auch Jim aufzuschreien. Auf einmal begriff er, dass es ein tödlicher Fehler gewesen war, die nichtmenschliche Kapuzengestalt zu betrügen. All die Zeit über hatte er sich sicher gefühlt, doch er war gefunden worden. Nun war nicht nur sein eigenes Leben verwirkt, sondern auch das der Zwillinge, die wegen einen für sie unglücklichen Zufall seine Bekanntschaft gemacht hatten und durch die Aussicht auf vorübergehenden Luxus verführt worden waren, eine Zeitlang an seiner Seite zu verbringen.
Nur noch wenige Meter trennte Lilas Leiche von dem Whirlpool. Der Anblick erfüllte Lina mit solchem Entsetzen, dass sich die langen Fingernägel ihrer rechten Hand in Jim Arnolds rechten Unterarm bohrten, worauf ein physischer Schmerz eintrat, der den einstigen Mittelsmann noch lauter aufbrüllen ließ.
Was auch immer die tote Zwillingsschwester festhielt, es holte Schwung und ließ den Leichnam los. Lilas Körper wurde die letzten Meter weit durch den Raum katapultiert und landete zwischen Jim und ihrer zur Seite schreckenden Schwester in dem sprudelnden Wasser des Whirlpoolbeckens, das sich durch das Blut sogleich rot verfärbte. Unfähig sich zu rühren, entdeckten die weitaufgerissenen Augen des Mannes, der die falsche Identität von Jim Arnold angenommen hatte, auf dem gefliesten Boden des Badezimmers eine lebendige Puppe in der Optik eines grauenvoll entstellten Narren stehen. Der Puppennarr, dessen Mund zu einem entsetzlichen Grinsen ansetzte, lenkte mit seinen Bewegungen, die des im Vergleich riesigen Schattens, der nun unmittelbar vor dem Rand des Whirlpools angelangt war. Es war das letzte was er in seinem Leben sah. Im nächsten Augenblick beugte der Schatten des Narren sich vor und begann auf die Zwillingsschwester und ihn einzustechen. Ihre Todesschreie verstummten, als sie in dem von Blut verfärbtem Wasser untergingen.