Der Springteufel Teil 2

Ohne eine Mine zu verziehen, folgte der Personenschützer dem Butler an den Tresen des Schießstandes. Erneut holte Edgar seine Brieftasche hervor und zog aus einem der Geldfächer zwei Doller hervor, die er auf den Standtresen legte. „Mein Freund hier würde gerne sechsmal schießen“, sagte Edgar, während er auf den schweigsamen Securitymann neben ihn deutete. Dieser bedachte den mehr als einen Kopf kleineren Butler mit einem herablassenden Blick. Wegen der Sonnenbrille fiel es Jamie schwer den Blick des hochgewachsenen Bodyguards zu deuten, doch er glaubte, dass dieser sich über Edgars nicht ganz ernst gemeinte Bezeichnung Freund ärgerte.
Nichtsdestotrotz nahm der Personenschützer eines der Gewehre zur Hand, das für sechs Schuss freigegeben wurde. Lässig hob er es hoch und begann ohne zu zögern den Abzug zu betätigen. Kurz hintereinander schossen die Gummipatronen aus dem Lauf des Luftdruckgewehrs. Zielsicher traf jeder der sechs Schuss einen der Minnigeister, die durch die Wucht des Aufpralls jeweils ihre aufrechte Position verloren. Beeindruckt blieben jene Passanten, die etwas davon mitbekamen, in einiger Entfernung vor dem Schießstand stehen.
„Sechs Treffer!“, jubelte Edgar begeistert. „Nun dürfen sich die beiden Kinder jeweils einen der Hauptpreise aussuchen.“
Vor Freude sprang Kathy mehrmals hintereinander in die Höhe. „Den Riesenteddy!“, rief sie aufgeregt. Das Mädchen zeigte auf einen Teddybären, der so groß wie ein erwachsener Mensch war und sie daher um ein ganzes Stück überragte. Das gigantische Kuscheltier saß ein Stück abseits von den übrigen Preisen in der hintersten Ecke des Schießstands. Die Kapuzengestalt griff den Riesenteddy mit ihren langen Fingern und hob ihn mühelos über den Standtresen, wo Edgar ihn in Empfang nahm. Lachend kuschelt Kathy sich sofort an den übergroßen Teddy. Edgar erfüllte das Ganze auf einmal mit weitaus weniger Freude, denn ihm wurde bewusst, dass er derjenige war, der dieses Kuscheltiermonstrum den ganzen Weg zu der Limousine, die auf dem oberen Deck eines Parkhauses parkte, tragen musste. Ein achtjähriges Mädchen war damit überfordert und von den Personenschützern würde sich keiner dazu herablassen. Bevor es so weit war, drehte Edgar sich jedoch zu Jamie um, der mit einem breiten Grinsen vor dem Schießstand stand und seinen Blick über die Auslagen schweifen ließ. „Sie sind dran sich einen Preis auszusuchen“, forderte der Butler den Jungen auf. Jamie, der genau wusste welchen der Hauptpreise er wollte, zögerte, als ob etwas tief in seinem Innern ihn daran hindern wollte, seinen Wunsch auszusprechen. Schließlich fasste der Junge sich ein Herz und zeigte auf die schwarze Box, von der er gar nicht ahnte, was sich in ihrem Innern befand. „Den kleinen schwarzen Kasten da“, sagte er. Kaum da Jamie seine Wahl getroffen hatte, umfasste die Kapuzengestalt die Box mit einer Hand, um sie den gespannt guckenden Jungen über den Standtresen zu reichen. Zögerlich nahm Jamie sie aus der grauen Hand des Mannes, den er für einen verkleideten Schausteller hielt. Jamie wiegte den würfelförmigen Gegenstand, der schwerer war als gedacht, in seinen Händen. Er war aus einem massiven Material gefertigt, das sich ähnlich wie Gestein anfühlte. Als Jamie über seine sechs Seiten hinwegstrich, fühlte er, dass sie leicht uneben waren. Oben besaß der kleine Kasten eine Art Deckel, der sich allerdings nicht von allein öffnen ließ. An der rechten Seite unter dem Deckel befand sich ein silberner Knopf. Wahrscheinlich löste dessen Betätigung einen Öffnungsmechanismus aus.
Über Jamies ungewöhnliche Wahl runzelte Edgar überrascht die Stirn. „Was soll das sein, eine Spieluhr?“, fragte er den Jungen. Achselzuckend drückte Jamie gegen den silbernen Knopf an der Seite, der nach ein wenig Druck nachgab. Oben sprang der Deckel des Kästchens auf, wobei eine an einer Sprungfeder befestigte Narrenfigur nach draußen katapultiert wurde. Ein leises Kichern ertönte dabei aus der Box. „Ein Springteufel!“, rief Jamie begeistert. „So einen habe ich mir schon immer gewünscht!“
Bei dem obskuren Anblick dieses höchst speziellen Springteufels rümpfte Edgar angewidert die Nase. Auch Jamies kleine Schwester war von dem schrecklichen Aussehen der Narrenfigur alles andere als angetan und vergrub ihr Gesicht im Plüsch des Riesenteddys.
„Der sieht ja widerlich aus. Ein Horrorspringteufel“, sagte der Butler, bezogen auf das Aussehen der Figur, die aus dem Kästchen gesprungen war.
Grinsend betrachtete Jamie das Modell eines mittelalterlichen Miniaturnarren. Die Figur, die circa 15 Zentimeter groß war, besaß eine menschliche Form, doch war dies auch schon alles was an ihr menschlich wirkte. Ihr Kopf wurde von einer rot und grün gestreiften Narrenkappe gekrönt. Die übrige Kleidung der Puppe, die aus glänzender Seide zu bestehen schien, war in denselben Farben karoförmig gemustert. Das gräuliche Gesicht des Springteufels war mit Furchen und Narben übersät. Sein markantes Kinn lief spitz zu und stand hervor. Der Schöpfer des Narren hatte dessen Augen, deren Pupillen an ein lauerndes Reptil erinnerten, mit blutroten Adern versehen. Sie verstärkten den Wahnsinn, der in den unmenschlichen Augen der Figur erkennbar war. Ein zu einem teuflischen Grinsen verzerrter Mund, das zwei Reihen spitzer Reißzähne offenbarte, rundete das Fratzengesicht des Springteufels ab.
„Gefällt Ihnen dieses Ding da wirklich?“, fuhr Edgar nach einer Weile mit einem Kopfschütteln fort. „Für mich ist dieser sonderbare Springteufel im höchsten Maße verstörend und Angst einflößend. Ich bin mir sicher, dass Sie ihn gegen jeden anderen Preis eintauschen könnten.“
Jamie, der Horrorfilme und alles was damit zu tun hatte liebte, musste auflachen. „Machst du Witze, Edgar“, entgegnete Jamie. „Dieser Springteufel ist mit Abstand das abgefahrenste und coolste was ich je in Händen gehalten habe. Für kein Geld der Welt würde ich den wieder hergeben.“
„Na ja, der passt ja wunderbar in Ihre Sammlung. Trotzdem jagt mir dieser Bursche eine Heidenangst ein. Und wie es aussieht, nicht nur mir. Ihre Schwester hat, seit sie das Ding gesehen hat, nicht mehr von ihrem Teddy aufgesehen.“
Tatsächlich besaß Jamie in seinem Zimmer eine große Sammlung an Figuren und Modellen, die meistens aus irgendwelchen Horror- Science Fiction- oder Fantasyfilmen stammten. Das Highlight dieser Sammlung war bisher eine King Kong Actionfigur gewesen, die an einem Miniaturmodell vom New Yorker Empire State Building emporklettert. Dieser ausgefallene Springteufel toppte nach Jamies Meinung den Riesengorilla am Hochhausmodell noch. „Ich werde den Zombienarr zurück in seine Box schieben“, beruhigte Jamie den Butler, als er dessen beunruhigten Gesichtsausdruck deutete. Mit den Fingern seiner rechten drückte er die Figur mitsamt Sprungfeder in das Kästchen, bis ein einrastendes Klicken zu hören war und auch der Deckel sich wieder schließen ließ.
„Gut“, entgegnete Edgar. „So erschrecken Sie wenigstens nicht jedes Kind auf dem Rummelplatz zu Tode. Ihr Kinder habt eure Preise und wir sollten uns nun wie vereinbart auf den Rückweg machen. Vor uns liegt eine lange Heimfahrt und Ihre Eltern sind sicherlich froh, wenn Sie vor dem Abendbrot zurück sind.“
Gemeinsam mit Butler und Leibwächtern verließen die Gibsonkinder den Rummelplatz. Auf den von Buden und Fahrgeschäften gesäumten Weg drehte Edgar sich als einziger noch einmal zu dem Schießstand um. Sein Blick blieb auf der gesichtslosen Gestalt hängen. Als er im Schatten unter der tiefsitzenden Kapuze das triumphierende Starren einer boshaften Intelligenz erspürte, musste er so heftig schlucken, dass ihm der Kehlkopf wehtat. Bei dem Gefühl, das gerade etwas geschehen war, was Unheil zur Folge haben würde, trat kalter Schweiß auf seine Stirn. Den Riesenteddy tragend drehte er sich, ohne etwas von seinem unguten Gefühl zu erwähnen, wieder um. Hoffend, dass er sich irrte, folgte Edgar den zufriedenen Kindern der Gibsons.

Das Anwesen der Gibsons lag mitten auf dem Land, einige Meilen von der nächsten Stadt entfernt. Es handelte sich um ein altes schlossartiges Landhaus mit über zwanzig Zimmern. Die Erste, die Jamie, Kathy und Edgar nach ihrem Ausflug begrüßte, war Cherry, das dreijährige Pudelweibchen, das fast genau so lange Zeit zur Familie gehörte. Cherrys für ihre Rasse typisches krauses Fell war schneeweiß, was ihr ein besonders edles Aussehen verlieh.
„Da ist ja meine Süße“, freute Jamie sich, als das Pudelweibchen aufgeregt um seine Beine herumlief. Von den Mitgliedern seiner Familie war Jamie es, der den Hund am meisten ins Herz geschlossen hatte. Eine Liebe, die auf besondere Weise erwidert wurde. Cherry kam fast immer zuerst zu Jamie angelaufen. Für sein Alter verbrachte der Junge ungewöhnlich viel Zeit mit Cherry. Gleichaltrige Freunde besaß er kaum und den wenigen Bekannten, die Jamie hatte, opferte er längst nicht so viel Zeit. In den Augen seines Vaters war Jamie ein ungewöhnlicher Junge, der sich oft ganz anders verhielt, als Robert Gibson es im selben Alter getan hätte. Anderseits war Jamie über die Unterschiede zwischen sich und seinem alten Herrn, der bereits als junger Mann in die Politik gegangen war, auch ein wenig Stolz, denn er wollte nie wie sein Vater sein.
Am liebsten wäre Jamie gleich auf sein Zimmer gegangen, um sich in Ruhe den Springteufel etwas genauer anzusehen, doch es war bei den Gibsons üblich, dass nach einem Ausflug erst einmal die Familie zusammenkam. Darüber hinaus war es bald an der Zeit für das Abendessen, das bis auf wenige Ausnahmen stets Punkt 19:00 Uhr im Esszimmer eingenommen wurde. Daher setzten sich die Kinder erst einmal in das große Wohnzimmer der Gibsons, wo neben ein paar kostbaren Gemälden auch mehrere ausgestopfte Jagdtrophäen an den Wänden hingen.
Nach wenigen Minuten kamen Robert und Ellen Gibson dazu. Sofort sprang Kathy von dem Sessel hoch, auf dem sie saß und lief in die Arme ihrer Mutter. „Mami, Mami!“, rief das Mädchen fröhlich, als sie von Ellen hochgehoben wurde.
„Na ihr Ausflügler“, begrüßte Robert Gibson seine Kinder mit einem Lächeln. „Ihr seid zurück. Ich hoffe ihr Zwei hattet einen schönen Tag.“
„Jaaaa!“, antwortete Kathy aufgeregt. „Wir sind Karussells gefahren und an einem Schießstand hat einer der Onkels mit den Sonnenbrillen Preise für uns gewonnen!“
„Ich weiß“, entgegnete Ellen. Sie strich ihrer Tochter sanft über die Nase. „Du hast einen riesengroßen Teddy. Edgar hat ihn eben auf dein Zimmer gebracht.“
Interessiert wandte Robert Gibson sich seinem Sohn zu. „Und was hast du gewonnen, Jamie?“ Der Junge nahm das schwarze Kästchen, das neben ihm lag und hob es hoch. „Diesen kleinen Kasten, Dad“, antwortete er.
„Was ist denn da drin? Ich kann mir nicht vorstellen, dass du dir einfach eine leere schwarze Box als Hauptgewinn ausgesucht hast.“
Da Kathy ahnte was gleichkommen würde, umarmte sie ihre Mutter noch fester und wandte ihren Kopf mit einem Seufzer zur Seite. „Was hast du denn, Süße?“, fragte Ellen und strich durch das blonde Haar ihrer Tochter.
Eine Antwort kam nicht, stattdessen drückte Jamie auf den silbernen Knopf am Rand des Kästchens, worauf der Springteufel herauskatapultiert wurde. Angewidert verzog Robert Gibson das Gesicht, als er sah, was da an einer Sprungfeder aus dem schwarzen Kästchen herausgekommen war. „Oh, was für ein hübsches Kerlchen“, sagte Jamies Vater mit einem ironischen Unterton in der Stimme. „Der passt ja ausgezeichnet in deine Sammlung von Kuriositäten. Doch tu mir einen gefallen und steck diese Missgeburt von einem Clown wieder in ihren Kasten zurück. Das Ding jagt nicht nur deiner Schwester einen gehörigen Schrecken ein.“
„Wenn schon Missgeburt, dann die eines mittelalterlichen Narren und nicht die eines Zirkusclowns“, verbesserte Jamie seinen Vater. Robert Gibson rollte mit den Augen. „Bitte um Entschuldigung. Ist mir schon klar, dass es ein Narr und kein Clown ist. Nichtsdestotrotz sollst du das Ding wieder in seine Box zurückstecken und erst wenn du allein auf deinem Zimmer bist, wieder rausholen. Kathy ist schon kurz davor loszuheulen, also lass mich dich nicht noch mal darum bitten. In wenigen Minuten wird eh das Abendessen aufgetischt, daher ist es an der Zeit, dass wir gemeinsam in den Speisesaal gehen.“
Widerwillig drückte Jamie den Springteufel wieder in seine Box zurück und stellte diese dann an den Rand des großen Wohnzimmertischs ab. „Meine Familie kennt sich einfach nicht mit Kultur aus“, dachte Jamie, als sein Vater ihn zufrieden zunickte. Der Junge stand von der Couch auf, um den anderen in den angrenzenden Speisesaal zu folgen.

(Teil 3 in wenigen Tagen)

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