Veröffentlicht: 29.10.2024. Rubrik: Historisches
Der Ruf zu den Waffen
Am 13. Dezember 1916, irgendwo in Frankreich, in der Region von Verdun, erstreckten sich die Schützengräben wie ein labyrinthischer Albtraum – ein Netz aus Schlamm und Blut, in dem Verzweiflung jeden Atemzug begleitete. Gereon Eismann, geboren am 17. April 1898 in Köln als Sohn von Rosa-Maria (geb. Fischer) und Patrick Eismann, stand mitten in diesem Chaos. Nur 18 Jahre alt, etwa 1,80 Meter groß, blond mit strahlend blauen Augen – das Idealbild eines Deutschen, wie die Fremden sagten.
Er stand Seite an Seite mit seinen Jugendfreunden, durch das gleiche Elend und die gleiche Angst verbunden. Die Gruppe, allesamt aus Köln stammend, war aufgerufen worden, ihr Vaterland in einem Krieg zu verteidigen, der unendlich zu sein schien. Ein Krieg, der Männer und ihre Seelen zerbrach, der nach und nach ihre Menschlichkeit zerstörte.
Der Schlamm klebte an ihren Stiefeln und der Gestank des Todes lag in der Luft, was jeden Atemzug zur Qual machte. Gereon blickte zu seinem besten Freund Matthäus Hosenberg, geboren am 12. Dezember 1898 in Bonn. In Matthäus' Augen lag eine unergründliche Melancholie, ein ständiger Begleiter in dieser Hölle. Neben ihm standen die Brüder Kristof und Michael Mittelsbaum, unzertrennlich trotz des infernalischen Umfelds. Anton Hosenberg, Matthäus’ älterer Bruder, rieb sich vergeblich die steifen, kalten Hände. Jakob Müller, der Lustigste in der Runde, versuchte mit lustigen Geschichten und Erinnerungen aus der Zeit vor dem Krieg die Laune der Kameraden zu heben.
„Carlotta, meine geliebte Lotta“, dachte Gereon still, sein Herz schwer vor Sehnsucht und Traurigkeit, „wenn ich doch nur jetzt bei dir sein könnte, fern von diesem Elend.“
Oft träumte Gereon von Carlotta Rosenwald, seiner Geliebten, die er nach der Rückkehr zu heiraten hoffte. Sie waren zusammen in Köln aufgewachsen, und ihre Liebe war über die Jahre gewachsen. Jeden Tag in den Gräben schrieb er ihr Briefe, seine Worte voller Liebe und Angst, in der Hoffnung, dass diese Briefe ihr inmitten des Sturms ein wenig Trost bringen würden.
Am 14. Dezember erhob sich die Morgendämmerung über ein Schlachtfeld, das still, aber von Spannung erfüllt war – wie die Ruhe vor dem Sturm. Am Vortag hatten sie einen französischen Angriff abgewehrt, und der Boden war mit Körpern übersät, reglose Gestalten, die niemals wieder einen Sonnenaufgang erleben würden. Die Ratten, ständige Begleiter, fraßen an den Toten und tauchten die Überlebenden in tiefen Ekel und düstere Resignation.
Gereon blickte seine Freunde an, ihre Gesichter gezeichnet von Erschöpfung und Kummer. Jakob, immer noch lächelnd, versuchte die Stimmung zu heben.
„Weißt du, Gereon, nach diesem Krieg eröffnen wir ein Café in Köln. Ein ruhiger Ort, weit weg von den Bomben.“
Gereon lächelte schwach, ein flüchtiger Hoffnungsschimmer in seinen Augen. „Ja, Jakob. Ein ruhiger Ort…“
Am 16. Dezember 1916 traf das Grauen die Gruppe mit voller Wucht. Französische Granaten begannen auf ihre Position zu regnen, rissen Erde und Körper mit brutaler Gewalt auseinander. Die Schreie der Verwundeten hallten überall wider und erfüllten die Luft mit Leid und Angst. Gereon und seine Kameraden kauerte sich in den Graben, betend, dass sie überleben würden.
Im Chaos explodierte eine Granate nahe bei ihnen, scharfkantige Metallsplitter in alle Richtungen schleudernd. Gereon drehte sich um und sah Jakob auf dem Boden liegen, sein Blick leer und starr.
„Jakob! Nein, Jakob!“ schrie Gereon und stürzte zu seinem Freund mit eisiger Angst.
Kristof und Mickaël kamen hinzu, doch es war zu spät. Jakob Müller, die frohe Seele der Gruppe, war tot. Der Schmerz war erdrückend, ein unerträgliches Gewicht auf der Brust von Gereon und seinen Freunden. Der Verlust seines Kindheitsfreundes war ein fataler Schlag für seine ohnehin schon geschwächte Seele.
An diesem Abend fand Gereon einen Moment, um einen Brief an Carlotta zu schreiben. Seine Hand zitterte, als er die Feder hielt, und Tränen trübten seinen Blick.
„Meine liebe Lotta,
Heute habe ich einen wertvollen Freund verloren. Jakob Müller ist unter feindlichen Granaten gefallen. Der Schmerz ist unerträglich, und ich fühle mich so machtlos angesichts dieses sinnlosen Krieges. Jeden Tag denke ich an dich und unsere Zukunft. Das ist es, was mir die Kraft gibt weiterzumachen.
Dein Gereon"
Am 17. Dezember forderte der Krieg ein weiteres Opfer aus ihren Reihen. Anton Hosenberg wurde bei einem Angriff verletzt, eine französische Kugel durchbohrte seinen Oberschenkel. Gereon und Matthäus eilten ihm zur Hilfe, trugen ihn aus dem Kampfgetümmel unter einem Hagel von Kugeln und Schreien.
„Halt durch, Anton, wir bringen dich nach Hause,“ flüsterte Matthäus, Tränen in den Augen, während er die Hand seines Bruders mit verzweifelter Stärke hielt.
Anton biss die Zähne zusammen, um nicht zu schreien, der Schmerz in jeder Linie seines Gesichts sichtbar. Sie brachten ihn zum provisorischen Lazarett, betend, dass die Ärzte sein Bein und seine Zukunft retten könnten.
Am 18. Dezember 1916 tobte die Schlacht unaufhörlich weiter. Gereon, Kristof, Mickaël und Matthäus hielten durch, trotz der Müdigkeit, des Schmerzes und der Trauer, die auf ihren Herzen lasteten. Die Gräben waren zu ihrer Welt geworden, einem Universum aus Schrecken, Kameradschaft und einem schwachen Funken Hoffnung.
Gereon dachte oft an Jakob, an sein Lächeln und an seine Träume von einem Café. Der Krieg hatte alles genommen, doch er hatte es nicht geschafft, ihren Geist und ihren Willen zu brechen. Sie kämpften nicht nur für ihr eigenes Überleben, sondern auch für die Menschen, die sie liebten, und für eine Zukunft, die sie noch immer für möglich hielten.
Am Ende des Tages breitete sich ein relativer Frieden aus, wie eine fragile Waffenruhe. Gereon nahm sich einen Moment, um zum Himmel zu blicken und an Carlotta zu denken. Eines Tages würden sie wieder vereint sein, und er würde ihr alles erzählen, in der Hoffnung, dass der Frieden endlich zurückkehrt.
Doch jeder Moment der Ruhe war von einer stummen Angst durchzogen, einer ständigen Furcht, dass der nächste Angriff ihr letzter sein könnte. Gereon, ein überzeugter Protestant, fand Trost in seinem Glauben, obwohl die täglichen Schrecken ihn oft an dessen Grenzen brachten. Er betete oft, bat Gott um Kraft zum Durchhalten, um Schutz für seine Freunde und um das Ende dieses sinnlosen Krieges.
Auch seine Freunde, gläubige Katholiken, fanden Zuflucht in ihrem Glauben, obwohl ihre Gebete manchmal von Verzweiflung erfüllt waren. Sie verbrachten gemeinsam Momente des Gebets, ihre religiösen Unterschiede verschwanden angesichts der brutalen Realität des Krieges.
Gereon zweifelte manchmal, fragte sich, wie ein gnädiger Gott so viel Leid zulassen konnte. Doch in den dunkelsten Momenten spürte er einen Hauch von Hoffnung, eine innere Kraft, die ihn weitermachen ließ. Es war dieser wankende, doch beständige Glaube, der ihn aufrecht hielt, der ihm die Kraft gab, an Carlotta zu schreiben, seine Freunde zu stützen und jeden Morgen aufzustehen, um einem neuen Inferno zu begegnen.
Er wusste, dass, auch wenn der Krieg sie zu brechen versuchte, ihr Geist, genährt von Liebe, Freundschaft und Glauben, unerschütterlich bleiben würde.