Veröffentlicht: 27.10.2024. Rubrik: Lustiges
Die Otter-Zeit
Mit einem anarcha-feministischen Kampf-Otter die Wohnung zu teilen, bedeutet für meine Frau und mich vor allem jeden Tag dazuzulernen. Was ja ganz grundsätzlich nichts schlechtes ist, ganz im Gegenteil. Der Otter ist auch jederzeit dazu bereit, uns an seinem unendlichen Wissen teilhaben zu lassen, ob wir wollen oder nicht. Das ADHS des Otters löst gelegentlich einen Hyperfokus auf bestimmte Themen aus, denen auch wir uns dann nicht entziehen können. Auch deshalb, weil der Otter bestimmte Geschichten gern wieder und wieder erzählt, um wieder und wieder die gleiche Reaktion von uns zu erhalten.
Vor gar nicht allzu langer Zeit hatte der Otter das Thema Zeit für sich entdeckt und philosophierte nicht nur ständig darüber, wie unterschiedlich sich Zeit anfühle, je nachdem, ob man gerade etwas täte, was man mag oder etwas, was man nicht mag. Die Liebe zur Zeit ging beim Otter sogar so weit, dass er ständig unangekündigt ins Wohnzimmer geschossen kam, nur um uns die Uhrzeit zu nennen. Anschließend machte der Otter auf dem Absatz kehrt und verschwand genauso schnell wieder, wie er gekommen war. Darauf angesprochen, meinte er nur: “Ihr habt hier eine Uhr, ihr schaut dauernd drauf, du trägst ja sogar eine um den Arm. Zeit scheint dir also ziemlich wichtig zu sein. Deshalb dachte ich, ich, ich erfinde den Otter-Zeitansage-Service. Freust du dich nicht?”
Reumütig schaute mich der Otter aus seinen Kulleraugen an und wusste genau, was er damit bewirkte. Ich versuchte es ein letztes Mal.
“Schau mal. Ich esse auch ständig was, aber trotzdem möchte ich nicht, dass mein Essen mir unaufgefordert in den Mund fliegt. Verstehst du es jetzt, Otterchen?”
Der Otter war eine Sekunde schachmatt, dann schimmerte in seinen Augen ein triumphierendes Grinsen.
“Aber…” setzte er mit unschuldiger Miene an.
“Das Essen musst du ja dann noch zerkauen und runterschlucken. Meine Zeitansage ist einfach so für dich da. Da musst du nix mehr mit machen.”
Ich seufzte und gab die Otter-Erziehung für den Moment auf, um mich wieder meinem Laptop zuzuwenden. Doch der Otter schien scheinbar mit der Unterhaltung noch nicht fertig zu sein, denn er schnaufte laut und warf einen Blick auf die Uhr in meinem Regal.
“Aaaaaah, es ist zwölf Uhr, genau die richtige Zeit, um eine Runde skaten zu gehen.”
Der Otterplan war aufgegangen. Mein Interesse an meinem Laptop hatte sich mit einem Otter-Wimpernschlag verflüchtigt. Ich schaute sofort zu meiner Uhr und direkt danach in ein unschuldig lächelndes Ottergesicht.
“Ottertier, es ist nicht zwölf Uhr, sondern vier Uhr nachmittags. Hast du wieder zu viel Muskatnuss an dein Essen gemacht oder was ist los?”
Der Otter rollte theatralisch mit den Augen.
“Ich mache nie zu viel Muskatnuss ins Essen. Es ist halt lecker und ich hatte noch nie irgendwelche Nebenwirkungen…”
Es folgte eine kurze Pause des in sich hineinhorchens aufseiten des Otters, dann ein zögerliches “Naja, denke ich jedenfalls. Aber um auf das eigentliche Thema zurückzukommen… Nach Otter-Zeitrechung ist es jetzt nicht vier, sondern zwölf Uhr. Weil ich gemerkt habe, dass ich viel später schlafen gehe und aufstehe, als früher. Dann habe ich immer das Gefühl, der Tag ist schon vorbei, nach dem Frühstück. Wenn ich aber um zwölf Uhr aufstehe und es erst acht Uhr ist, dann hab ich um neun Uhr gefrühstückt und noch den ganzen Tag vor mir. Verstehst du?”
Ich verstand nicht, oder zumindest nicht in Gänze, aber für mich viel relevanter war ja im Grunde auch die Information, dass der Otter zwölf Uhr mittags für eine gute Uhrzeit zum Skaten hielt und das wiederum bedeutete, dass ich die nächste Stunde ganz friedlich ohne andauernde, ungebetene Zeitansagen vor dem Schreibtisch verbringen konnte.