Veröffentlicht: 14.10.2024. Rubrik: Menschliches
Das Schweigen
"Ich bin queer.", schwieg ich in die Leere.
"Ich bin queer!", schwieg ich in die Totenstille des Esszimmers. In meinem Schweigen war ich nicht alleine. Nur Gabeln auf den Tellern aufkommen, Kaugeräusche. Gelegentliches Gießen der Wasserkaraffe.
Mein Bruder brachte manchmal seine Freundin Heim. Warum nicht ich?
Meine Schwester brachte manchmal ihren Freund Heim. Warum nicht ich?
Sie trug ihre Iangen Haare frei und zog sich bunte Sommerkleider an.
Also warum tat ich nicht dasselbe?
Er hatte einen Anzug an und ließ seinen Bart wachsen.
Also warum tat ich nicht dasselbe?
Das Schweigen erstickte mich. Man hätte den Raum genauso mit Kohlenstoffmonoxid füllen können.
So sicher, ohne zu sprechen, jedoch so gefährdet mit drei Wörtern? Ich stell mich als Beweis.
Vater saß am Esstisch gegenüber. Mutter neben ihm.
"Ich hab zwar nichts gegen Schwule, aber-"
"Heutzutage ist alles so weit hergeholt mit diesem Gendern-"
"Also ich hoffe, mein Kind folgt nicht diesem Trend-"
"Jede Woche erfinden diese LGBTQ-ler einen neuen Begriff-"
Aus Kritik wurde Hass.
"Krankheit!"
"Unnatürlich!"
"Seuche!"
"Schw*chtel!"
Aus Hass entstand Ausgrenzung.
"Ich wünsche sie nicht in meinem Haus!"
"Sie verdienen kein Leben!"
"Die Bibel sagt Adam und Eva!"
"Nicht vor meinen Kindern!"
Mein Schweigen würgte mich mehr als je.
Ich hörte meinen Herzschlag heftiger als je.
Die Wörter flossen über mich herab.
Durch feuchte Augen und durch schweres Atmen hielt ich mich gerade so. Ich schwamm durch ihre Seen voller Hass. Ich schwamm durch ihre Seen voller Hass, um nicht zusammenzubrechen.
Ich schwieg weiter.
"Ich bin-"
Schweigen.
"Ich bin satt. Ich gehe hoch."
So ging ich hoch und schwieg weiter.