Veröffentlicht: 10.04.2019. Rubrik: Menschliches
Ein Stück vom Glück
Das Leben, ein ständiger Treppenlauf ...
Sein Rücken schmerzte. Der Muskelkater in seinen Beinen brannte noch vom Vortag. Auch die folgenden Arbeitsstunden werden mit seinem Körper kein Erbarmen haben. Das T-Shirt, der Hosenbund, sein ganzer Körper waren schweißdurchtränkt, der Stoff klebten auf seiner Haut, mit Dreck überzogen. An eine Erholung war noch lange nicht zu denken. Wie ein Packesel schleppte er sich mit den randvoll beladenen Bauschutteimern zum Container, wo er mit letzter Kraft die Kübel nacheinander auf die Kante hievte, um ihren Inhalt in den Stahlbehälter zu versenken.
Seit drei Tagen entkernte er bereits die Dachgeschosswohnung eines Mehrfamilienhauses. Eigentlich hatte er nichts gegen harte und anstrengende Arbeit. Es war schließlich sein Job, doch diese Baustelle übertraf alles, was er bisher an Arbeit erlebt hatte. An die fünfzig/sechzig Mal war er bereits die fünf Stockwerke nach unten gegangen und musste sich dementsprechend oft wieder nach oben schleppen. Dazu kamen noch die Abrissarbeiten und das Verfüllen der Eimer.
Man sollte meinen, dass der Weg nach oben mit den leeren und im Vergleich fast schon federleichten Eimern eine Erholung darstellte, doch das Gegenteil war der Fall. Es ist schlimmer, gegen die Schwerkraft seinen Körper die Stufen, deren Anzahl er genauso oft gezählt hatte wie er sie vergessen hatte, hochzubugsieren. Jeder Tritt war mit einer Kniebeuge im Sport zu vergleichen, und bei fünftausend Kniebeugen ist man schon im Bereich des Leistungssports angelangt. Dieser Leistungssport wird für ihn an jenem Tage, etwa zur Mittagszeit, zum Hochleistungssport gesteigert. Es war die Zeit, in der der Chef mit der ersten Fuhre des Materials, welches zum Wiederaufbau der Wohnung benötigt wurde, vorbeikommen wollte.
Wie er diese Baustelle verfluchte. Dieser Job war die schlimmste Tortur die er jemals erlebt hatte und die sengende Sonne war an diesen Tagen keine Wohltat. Innerlich schimpfte er darüber, dass es an diesem Haus keine Möglichkeit gab, eine Müllrutsche anzubringen, und am zweiten Tag nach der Frühstückspause war er kurz davor gewesen, die Eimer in die Ecke zu feuern und nach Hause zu gehen, wenn auch nur in Gedanken – denn eine Arbeit einfach hinzuschmeißen konnte er sich in diesem Leben nicht mehr erlauben.
Diesen Job durfte er auf keinen Fall verlieren. Keiner würde ihm je wieder eine Chance geben. Ihm, dem ungelernten Ex-Häftling, der eine dreiköpfige Familie zu ernähren hatte. Seine ganze Berufserfahrung bestand aus der Erledigung von Tätigkeiten auf dem Bau, für die man keine Berufsausbildung benötigte. Sein jetziger Chef war der Einzige, der sich vor einem Jahr bereit erklärte, dem gerade aus der Haft Entlassenen einen Arbeitsplatz zu geben.
Der neue Arbeitgeber war keiner von diesen Ausbeutertypen, für die der junge Mann vor seiner Haft des Öfteren arbeiten musste, solche, die meinten, sich mit einem ungelernten Bauhelfer alles erlauben zu können. Sicher, sein Chef forderte auch einiges von seinen Angestellten, aber er entlohnte das auch entsprechend. Er habe ganz unten angefangen und weiß, was es heißt, hart zu knüppeln – betonte der Unternehmer immer wieder.
Kurz vor Mittag kam dieser dann zusammen mit einem Gesellen und brachte sowohl Baumaterial als auch belegte Brötchen mit. Obwohl noch nicht, wie geplant, der ganze Bauschutt aus der Wohnung verschwunden war, gab es keinen Ärger für den Bauhelfer. Die drei aßen einträchtig zusammen die Brötchen. Dann schafften sie zu dritt das Material nach oben und nahmen jeder auf dem Weg nach unten etwas von dem Müll mit. So ging alles viel schneller und machte sogar fast ein bisschen Spaß. Es war jemand da, mit dem er ein paar Worte wechseln konnte, was ein wenig von der Schwere der Arbeit ablenkte.
Den Arbeitskollegen konnte der Bauhelfer nicht genau einschätzen. Ist er wirklich nett oder tut dieser nur so und verachtet mich in Wirklichkeit? Mit solchen Gedanken schaffte sich der Ex-Sträfling ein weiteres Problem, denn ständig hatte er das Gefühl, dass er wegen seiner Vergangenheit von seinen Mitmenschen verurteilt wurde. Doch diese Gedanken wollte er sich zukünftig nicht mehr machen. Er versuchte, zu jedem freundlich zu sein und bekam meistens auch freundliche Worte zurück. Es gibt nicht viele, die von seinen Vorstrafen wissen, und Knacki steht ihm nun wirklich nicht auf der Stirn geschrieben.
Am späten Nachmittag war dann alles geschafft und er hoffte sehr, dass er am nächsten Tag nicht gleich zur nächsten Abriss- oder einer Bauaufräumstelle geschickt wird. Viel lieber würde er dem Gesellen beim Aufbau der Wände helfen. Ab und zu hat er schon bei solchen Arbeiten mitgemacht – auch in anderen Firmen. Da konnte er zeigen, dass auch er, der Ungelernte ohne Schulabschluss, einiges mehr draufhatte als Mauern einzureißen und Dreck zu schleppen.
***
Als der Vierundzwanzigjährige den Wohnungsschlüssel ins Schloss steckt und langsam die Tür öffnete, strahlte ihn seine fünfjährige Tochter mit ihren großen braunen Augen aus der Küche entgegen. Bei diesem Anblick wusste er, warum er die Eimer nicht in die Ecke gepfeffert hatte.
Vergessen war der schmerzende Körper und als die Kleine mit offenen Armen den Flur entlanglief, hob er sie leicht wie eine Feder vom Boden hoch und drückte sie fest an sich. Dabei überlegte er, wie seine Frau wohl reagieren wird, wenn er ihr erzählt, dass er mit seinem Chef noch ein Gespräch unter vier Augen hatte.
Der Firmeninhaber hatte ihn, was noch niemand zuvor getan hatte, für seinen Arbeitseinsatz und seine Zuverlässigkeit gelobt. Diese Anerkennung wurde noch mit einem Euro Lohnerhöhung pro Stunde unterstrichen. Auch wenn sich das nach nicht so viel anhörte, würde es am Ende des Monats – nach Abzügen – doch so um die hundertzwanzig Euro ausmachen. Zudem hatte der Unternehmer betont, dass er es nicht bereue, den jungen Mann eingestellt zu haben, und er hoffe, dass der Familienvater ihm auch keine Gelegenheit dazu geben würde.
Da war es wieder, hatte der Vorbestrafte gedacht, so nett die Menschen dir auch entgegentreten, ein letzter Zweifel an deiner Seriosität wird immer bleiben. Einmal Häftling, immer Häftling. Auch wenn ihn das ein bisschen traurig machte, umso glücklicher war er darüber gewesen, dass er am nächsten Tag würde zeigen dürfen, diesen einen Euro mehr auch wert zu sein. Er sollte, wie er es sich erhofft hatte, beim Aufbau der Wohnung mitarbeiten, und wenn er sich da bewährte, wollte der Chef ihn öfter bei solchen Arbeiten einsetzen.
Mit sich und der Welt zufrieden schloss er die Wohnungstür und ging mit der Kleinen auf dem Arm in die Küche, aus der es schon appetitanregend duftete. Seine Frau, die er schon aus Jugendtagen kannte und die immer zu ihm gehalten hatte, stand am Herd. Die Zweiundzwanzigjährige hatte ihn, im Gegensatz zu den anderen und vor allem auch im Gegensatz zu ihm selbst, nie als Versager gesehen. Seine über alles geliebte Frau schenkte ihm erst ein Lächeln und dann einen Kuss.
Die Zeit war endgültig zu Ende, wenn auch längst noch nicht vergessen, in der er versucht hatte, seine Familie aus lauter Verzweiflung durch Verbrechen zu ernähren. Einmal eine falsche Entscheidung getroffen – für ein Leben gezeichnet. Doch jetzt hatte auch er endlich mal ein Stück vom Glück.
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