Veröffentlicht: 27.03.2019. Rubrik: Menschliches
100 Euro Episoden - Episode 1
Die fast Quadratmeter großen Papierbögen mit den vorab eingearbeiteten Sicherheitsmerkmalen laufen hintereinander durch die ratternde Produktionsstraße der Druckerei, bis die Blätter schließlich am Ende maschinell in je sechzig Scheinen mit einer Größe von exakt 147x82 Millimeter geschnitten und verpackt werden. Die dichtgeklebten Kartons kommen auf einen Rollwagen und gelangen so in den Lagertresor, bis die Kartons von einem Transporter abgeholt werden, der sie zu einem Cash-Center bringt von wo aus sie weiter an ihren Bestimmungsort verteilt werden. Zumeist sind es die Geldautomaten der Banken, wo sie nicht lange verweilen, denn der nächste Kunde schiebt bereits seine Bank-Karte in die dafür vorgesehene Öffnung.
Tobias gab sein Wunschbetrag über die Tastatur in den Bankautomaten ein und dieser gab nach einigen Sekunden die EC-Karte wieder frei. Tobias zog sie aus dem Schlitz und der Automat blätterte die Geldscheine heraus. Unter den offensichtlich gebrauchten Scheinen befand sich eine glatte, unbenutzte 100 Euro-Note, die der Automat neben weiteren Scheinen an Tobias übergab. 300 Euro hatte er sich insgesamt auszahlen lassen, die sich aus eben diesem neuen Hunderter, zwei Fünfziger, vier Zwanziger und zwei Zehner zusammensetzten.
Er verstaute das Geld in einem schwarzen ledernen Portmonee und steckte es in die Innentasche seiner Winterjacke. Er verließ den Vorraum der Bank und machte sich auf den Weg in das Restaurant auf der anderen Straßenseite. Es war viertel vor sechs am Abend, draußen war es bereits dunkel und es hatte zur Freude der Kinder schon den ganzen Tag geschneit. Diese tobten im Schnee, lieferten sich Schneeballschlachten und rollten Schneemänner zusammen, rodelten, legten sich auf den Rücken und drückten Schneeengel in das weiche weiße unter sich.
Vor dem Gebäude klopfte Tobias seine Jacke ab und trat sich den Schnee von den Schuhen. Er öffnete die Tür und betrat das Lokal, wo ihn wie immer die seichten italienische Klänge aus den Lautsprechern empfingen, untermalt von einer ruhigen Gesprächskulisse und klapperndem Geschirr.
Er zog seine Jacke aus und hängte sie auf einen Bügel an die Garderobe. Der Wirt Riccardo kam und begrüßte den gern gesehenen Gast freudig, wobei er versicherte, dass alles wie besprochen vorbereitet sei. Der Gastwirt führte Tobias zu dem reservierten Tisch, der sich etwas versteckt hinter bepflanzten Raumteilern befand. Dieses separate Eckchen war für zwei Personen gedeckt und die Mitte der Tafel zierte ein Tischgesteck mit einer Kerze im Glas, die der Chef des Hauses sogleich ansteckte, während Tobias sich setzte, wobei er Smartphone und Portmonee auf den Tisch legte. Es sollte das erste Mal werden, das Tobias seine Pizza in weiblicher Gesellschaft zu sich nahm.
Riccardo fragte seinen Gast lächelnd, ob dieser schon einen Wunsch hätte. Tobias verneinte, er wollte warten, bis seine Begleitung eingetroffen sei. Mit einem Nicken wendete sich der Gastwirt ab und ging zurück hinter den Tresen. Tobias nahm das Smartphone zur Hand und schaute nervös auf das Display. Es war keine Nachricht eingegangen, was für ihn eine gute Nachricht war, bedeutete es doch, dass er keine Absage in letzter Minute bekommen hatte. Trotzdem war sein Unterbewusstsein nicht zufriedengestellt, denn immerhin könnte sie ihn ja trotzdem versetzen. Aber nein, er hatte jetzt schon seit zwei Wochen täglich mit ihr im Partner-Portal geschrieben und er konnte sich nicht vorstellen, dass sie so etwas tun würde.
Tobias hatte die Tür des Restaurants im Blickfeld, musste sich allerdings etwas um die Ecke biegen, um diese komplett zu beobachten. Schließlich öffnete sie sich. Sein Mund begann zu lächeln, der Hals wurde länger und die Mundwinkel gingen wieder nach unten. Es waren zwei Männer, die das Lokal betraten. Tobias schaute auf die Handy-Uhr, welches er noch immer in der Hand hatte. Es war fünf vor sieben. Er bemerkte, dass seine Hand leicht zitterte und musste über sich selbst etwas schmunzeln. Er hatte nicht gedacht, dass ihn diese Situation nervös machte, denn sonst war er immer abgeklärt. Nicht mal bei Prüfungen oder in seinem ersten Einstellungsgespräch nach der Uni war er nervös gewesen.
Wieder ging die Tür auf und eine Frau kam herein. Das ist sie, sagte er sich … oder nicht? Im Kopf verglich er die Bilder, die er da von seiner Internetbekanntschaft gespeichert hatte, mit der Frau, die sich gerade den Mantel auszog und anscheinend suchend den Kopf in alle Richtungen drehte. Schließlich hatte sie gefunden, wonach sie Ausschau hielt. Sie lächelte, hob die Hand und ging ans entgegengesetzte Ende des Raumes.
Tobias überprüfte hektisch die Mails, um ganz sicher zu gehen, dass er sich auch nicht im Datum oder der Uhrzeit vertan hatte. Auch die fünf Fotos von Antonia schaute er sich noch einmal an und erwiderte ihr Lächeln, welches die blonde Frau auf dem Display ihm entgegenbrachte.
Er schaute verträumt in den Apparat und bemerkte nicht, dass plötzlich jemand an den Tisch im Separee gekommen war. Ein „Hallo Tobias“, ließ ihn zusammenfahren. Leicht erschrocken schaute er vom Smartphone auf, begutachtete in einem Bruchteil einer Sekunde die Frau, schaute zurück zum Handy und als er realisiert hatte, dass das Foto nun in voller Lebenspracht vor ihm stand, erhob er sich rasch und schaltete dabei das Handy aus, legte es auf den Tisch und begrüßte seine Verabredung.
Kurz standen sie sich sprachlos gegenüber, schauten sich an und umarmten sich dann zögerlich. Tobias bot ihr den Stuhl vor dem zweiten Gedeck an und beide setzten sich. Nach einem kurzen Wortwechsel darüber, wie schön es sei, sich nun einmal real zu sehen und wie gut sie beide hergekommen seien, kam auch schon Riccardo mit den Speisekarten, reichte die erste Antonia und überhäufte sie auf italienische Art mit Komplimenten und gratulierte Tobias zu seiner Begleitung. Sie bestellten als Vorspeise jeder eine Tomatensuppe und zum Hauptgang gab es Pizza und einen kleinen Salat. Dazu wurde eine Flasche Chianti serviert.
Während des Essens kam es den Beiden in ihrem Gespräch so vor, als kannten sie sich schon eine Ewigkeit. Auch wenn sie in ihrer Internetkorrespondenz nicht viel Persönliches voneinander preisgaben, so hatten sie zumindest schon mal die gleichen Interessen und Vorstellungen von einem Leben in einer Partnerschaft.
Nach zwei Stunden beschloss das Pärchen, einen Spaziergang in der sternenklaren Winternacht zu unternehmen. Es schneite nicht mehr. Anschließend sollte es in die Lounge-Bar an der Förde gehen, um da noch ein wenig beisammenzusitzen und den ein oder anderen Cocktail zu genießen.
Doch bevor sie aufbrachen, ging Tobias zu Riccardo an den Tresen, bedankte sich für die tolle Bewirtung und bezahlte die Rechnung. Er hatte Antonia für diesen Abend eingeladen, erst wollte sie nicht, dann haben sie sich geeinigt, dass sie das zweite Date bezahlen wird, wenn es dazu kommt. Riccardo überreichte Tobias die Rechnung und dieser legte den Hundert-Euro-Schein auf den Tresen.
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