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geschrieben 2024 von Leon Brest (Leon Brest).
Veröffentlicht: 26.09.2024. Rubrik: Menschliches


Der neue Schuh

Es war einmal ein alter Schuhmachermeister, der sehr bekannt war, denn er verstand sein Handwerk. Weit und breit konnte man kein besseres Schuhwerk bekommen als bei ihm. Er hatte nur eine kleine Werkstatt, in der er Schuhe für jeden Anlass und jede Jahreszeit anfertigte, alles nach Maß, für Kinder und Erwachsene, für Männer und Frauen, ob Stiefel oder Sandalen, für Sommer oder Winter, zur Hochzeit oder zum Tanz.

Er lebte in einem kleinen Dorf, doch seine Kunden kamen von weit her und gingen lange Wege für ein paar Schuhe aus seiner Hand. Er träumte oft von fernen Ländern, von den Weiten der Landschaften, von Seen und Bergen, von Flora und Fauna, von den Meeren und Kulturen auf anderen Kontinenten, von denen er in Büchern gelesen hatte und hin und wieder ein Bild davon bestaunen konnte.

Von seiner Arbeit als Schuhmacher konnte er leben, doch ferne Reisen blieben ein Traum. Einmal im Monat fuhr er in die nächste Stadt, um dort bei einem Händler all das zu besorgen, um gutes Schuhwerk herzustellen: Schnürsenkel, Nägel, Garn und vor allem feines Leder.

Beim Händler angekommen, suchte er wie immer zuerst nach dem besten Leder. Zwischen all den Sorten lag ein ganz besonderes Stück, etwas, das er zuvor noch nie gesehen hatte. Er fragte den Händler: „Meine Güte, was ist das für ein festes, schickes Stück Leder?“ Der Händler antwortete: „Tja, das ist eine gute Frage. Wir wissen es also beide nicht. Jedenfalls ist es von bestechend guter Qualität und bestens geeignet für ein elegantes Meisterwerk.“ Der Schuhmacher fragte den Händler, was es kosten solle. Dieser entgegnete ihm: „Du bist seit vielen Jahren ein treuer Kunde, und da ich nicht weiß, von welcher Art dieses Leder ist, will ich es dir schenken. Bei dir ist es in guten Händen, und ich weiß, du wirst das Beste daraus machen.“ Dankend nahm er dieses Angebot an und schon formte er in Gedanken das Leder zu einem Schuh nach seinen Vorstellungen, ein edles Paar, das mit diesem Leder nur einmal im Leben eines Meisters gelingen konnte. Es sollte das erste Paar sein, von dem er nicht wusste, wer es einst tragen würde. Mehrere Jahre stand dieses beige Paar Herrenschuhe mit einem silbernen Faden in den schwarzen Schnürsenkeln in einer dafür eigens angeschafften Vitrine, in der es täglich während der Arbeit betrachtet werden konnte.

Eines Tages kam ein junger Mann in die Werkstatt des Schuhmachermeisters und bat ihn um ein paar Schuhe zu einem guten Preis, denn er hätte eine sehr lange Reise vor sich. Der Schuhmacher fragte ihn: „Wohin soll dich deine Reise bringen?“ Der junge Mann antwortete: „Welche Länder und Kulturen ich dabei kennenlernen werde, weiß ich noch nicht, aber es werden alle Kontinente dieser Erde sein.“

Der Schuhmacher meinte: „Ja, du wirst gute Schuhe brauchen. Sieh da, in der kleinen Vitrine steht ein Paar. Nimm es heraus und geh ein paar Schritte damit, um zu sehen, ob sie dir angenehm sind.“

Der junge Mann war begeistert von diesen eleganten Schuhen. Es war wie auf Wolken zu gehen, als würde man den Boden unter den Füßen nicht berühren. Der junge Mann wandte sich dem Schuhmacher zu und sprach: „Du bist wahrlich ein Meister deines Handwerks, aber ich muss dich, so leid es mir tut, enttäuschen, denn ich werde diese außergewöhnlichen Schuhe nicht bezahlen können.“

Der Schuhmacher entgegnete ihm: „Jeder meiner Kunden soll ein Paar guter Schuhe besitzen. Ich verlange keinen festen Preis. Für gewöhnlich sage ich meinen Kunden, gib mir, was dir die Schuhe wert sind oder so viel, wie du geben kannst. Für dieses Paar Schuhe bekam ich einst das Leder geschenkt. Es scheint, als hätten sie auf dich gewartet, denn es sind die einzigen Schuhe, die ich nicht nach Maß anfertigte und von denen ich nicht wusste, wer sie tragen würde. Ich will sie dir schenken. Achte und pflege sie gut, und solltest du eines Tages hierher zurückkommen, dann besuche mich und erzähle mir von der Welt, von den Ländern und Kulturen, von den Landschaften und Abenteuern, die du bestaunen und erleben konntest, und von den besonderen Menschen, die dir begegnet sind.“

„Versprochen, edler Meister, ich werde mich bestimmt oft an sie erinnern, und wenn ich zurückkomme, werde ich dich besuchen“, antwortete der junge Mann.

Viele Jahre vergingen. Der junge Mann reiste durch alle Kontinente. Sein aufgeschlossenes, höfliches Wesen öffnete ihm viele Türen. Es entstanden viele geschäftliche Verbindungen, hinweg über viele Grenzen in aller Welt. Nach kaum zwei Jahrzehnten war er ein erfolgreicher Geschäftsmann geworden. Über alle Meere wurden seine Handelsgüter verschifft, zu Land über weite Strecken mit Zügen transportiert und manchmal auch mit Eselskarren in entlegene Gebiete gebracht.

Noch immer trug er die Schuhe des Meisters aus seiner Heimat. Nun war die Zeit gekommen, zurückzukehren zu seinen Wurzeln, wobei der erste Besuch dem Schuhmachermeister galt, um seinem Versprechen nachzukommen. Es hatte sich viel verändert in dem kleinen Dorf: neue Häuser, Geschäfte und sogar ein kleiner Park waren entstanden. Doch die Werkstatt des Schuhmachers war unverändert geblieben. Er trat ein, und ein Mann im Alter von vielleicht 25 Jahren war damit beschäftigt, Ordnung zu schaffen.

„Guten Tag, junger Mann“, begrüßte er ihn. „Ich möchte den Schuhmachermeister besuchen, der mir vor etwa 20 Jahren ein paar Schuhe schenkte, die ich noch heute trage. Damals gab ich ihm ein Versprechen, dass ich ihn besuchen würde, wenn ich in meine Heimat zurückkehre.“

„Guten Tag, mein Name ist Magnus“, erwiderte er. „Sie sind es also, von dem mein Großonkel immer wieder erzählte. Eines Tages wird er kommen und mir von vielen seiner Erlebnisse berichten, die er auf seiner langen Reise zu allen Kontinenten erleben konnte. Leider kommen Sie zu spät. Denn vor wenigen Jahren ist mein Großonkel verstorben. Seitdem führe ich diese Werkstatt; er war mein Lehrmeister.“

„Oh, das tut mir sehr leid“, bedauerte der erfolgreiche Geschäftsmann. „Ich wäre ihm so gerne noch einmal begegnet, hätte viel zu erzählen gehabt und vorallem um mich bei ihm zu bedanken.“

„Wissen Sie, junger Mann, ich bin weit gereist, und wohin ich auch ging, in diesen Schuhen fühlte ich mich zuhause. Viel mehr noch: Es war, als würden sie mir den richtigen Weg weisen und mich davor bewahren, davon abzukommen.“

Der erfolgreiche Geschäftsmann fragte den jungen Schuhmacher, ob er etwas für ihn tun könnte. Magnus entgegnete ihm: „Nun, die Werkstatt bringt nicht viel Ertrag, denn die Menschen kaufen lieber günstige Schuhe, die es auch nicht wert sind, repariert zu werden. Ich bräuchte neue Maschinen, um die Kunden, die maßgefertigte Schuhe schätzen, schneller mit guter Ware beliefern zu können. Allerdings werden Sie mir diesen Wunsch kaum erfüllen, denke ich.“

Der Geschäftsmann sah ihn an, überlegte kurz und machte ihm ein Angebot: „Besorge dir, was du brauchst an Werkzeugen und Maschinen. Ich werde alles bezahlen, und wenn deine Arbeit genügend einbringt, sollst du mir ein paar neue Schuhe anfertigen, wie es einst dein Meister tat.“

Der Schuhmacher Magnus konnte nach kurzer Zeit einen Gesellen beschäftigen. Das Geschäft fertigte nur exklusives Schuhwerk nach Maß für jedermann, der es zu schätzen wusste, in edlen Schuhen seiner Wege zu gehen.

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