Veröffentlicht: 06.09.2024. Rubrik: Unsortiert
Das Märchen von der hungrigen Hexe (frei nach den Gebrüdern Schlimm)
„Es war einmal, vor langer, langer Zeit, in einem weit, weit entfernten Land, die Hexe Katharina. Sie war eine fleißige Hexe, strich tagelang durch den dunklen Wald und backte für ihr Leben gern. Sie liebte Kuchen, Torten und Plätzchen über alles. Aber nicht, dass Ihr nun denkt, sie wäre korpulent gewesen, nein so war das nicht. Katharina war eine kluge Frau und besaß eine verzauberte Gabel. Wenn sie der Hunger überkam, steckte sie sich die blanke Gabel in den Mund, kaute kurz, schluckte zufrieden und war gesättigt. So sparte die schlaue Katharina sich die Mahlzeiten und konnte reinen Gewissens ihrer Liebe für süße Naschereien frönen. Inzwischen hatte sie sich sogar ein ganzes Haus aus Lebkuchen gebaut und immer stand eine lockende Torte oder ein verheißungsvoller Kuchen auf ihrem Küchentisch.
Stets hatte Katharina etwas selbst gebackenes auf ihren Wanderungen dabei und verschenkte es freudig an die Bewohner des tiefen Waldes. So manch ausgehungerter Wandersmann freute sich darüber, der Hexe zu begegnen, denn stets hatte sie einen geschmackvollen Butterkuchen, ein kräftiges Schwarzbrot, oder auch ein honigsüßes Törtchen in ihrem Rucksack. Die Hexe war eine gern gesehene Besucherin und genoss ein hohes Ansehen bei den Bewohnern des dunklen Waldes.“
Prinz Gustav, seines Zeichens zehnjähriger Thronfolger eines weit, weit entfernten Landes hockte vor langer, langer Zeit in seinem Himmelbett und sah das neue Kindermädchen gelangweilt an.
„Hexen sind doch blöde, erzähl mir lieber mehr von dem Kuchen.“ Der Prinz langte auf seinen Nachttisch und griff sich eines der zahlreichen Törtchen.
„Wartet doch erst mal ab, eure kleine Majestät, die Geschichte wird noch sehr spannend“, entgegnete eine lächelnde junge Dame und hob den Kopf, um verständnisvoll hinter dem großen Märchenbuch hervorzublicken.
„Das will ich für dich hoffen“, schmatzte Gustav und verdrehte blasiert die Augen. Sie räusperte sich leise und fuhr fort.
„Bei ihrer Wanderung waren ihr mehr hungrige Waldbewohner begegnet, als gewohnt und so hatte sich ihr Rucksack bereits zur Hälfte geleert, obwohl der Weg zu ihrem Häuschen noch weit war. Am Ufer eines kleinen Flusses traf sie auf einen Jäger, der verärgert vor einem fast niedergebranntem Feuer saß und verdrossen auf einen leeren Bratspieß blickte.
Die Hexe Katharina fragte den Jäger, was ihm die Laune verdorben hatte und er antwortet:
„Oh, diese zwei schlimmen Kinder! Hans und Grete schleichen durch den Wald und essen, essen und essen. Nichts bleibt mehr für andere übrig. Ich habe einen herrlichen Hirsch geschossen und briet ihn über dem Feuer. Der köstliche Duft ließ mir bereits das Wasser im Munde zusammenlaufen, als aus dem Nichts diese furchtbaren Kinder auftauchten. Sie stießen mich hinterrücks zu Boden und im Nu war der gesamte Hirsch aufgegessen!“
Die Hexe Katharina öffnete ihren Rucksack und schenkte dem Jäger ein großes Stück Streuselkuchen. Glücklich verabschiedete er sich bei ihr ging seiner Wege.“
„Geschah dem Jäger recht, soll er doch besser aufpassen“, schmatzte Gustav.
„Tat er dir denn gar nicht leid?“, fragte das Kindermädchen.
„Natürlich nicht, ich habe nur an den gerösteten Hirsch gedacht.“ Der beleibte kleine Prinz griff sich ein weiteres Törtchen, das Kindermädchen verdrehte hinter dem Märchenbuch die Augen und fuhr fort.
„Katharina stieg gerade einen dicht bewachsenen Hügel hinauf, als sie einem Mädchen mit einer leuchtend roten Kappe begegnete. Es saß auf einem Baumstumpf und starrte mit grimmigem Gesicht auf einen leeren Weidenkorb zu ihren Füßen. Verwundert fragte die Hexe Katharina, was ihr zugestoßen sei und des Mädchen antwortete:
„Oh, diese zwei schlimmen Kinder! Hans und Grete schleichen durch den Wald und essen, essen und essen. Nichts bleibt mehr für andere übrig. Ich wollte meiner Großmutter diesen Korb mit Essen und Wein bringen, aber plötzlich sprangen die beiden aus dem Unterholz und aßen alles auf! Meine arme, kranke Großmutter wird hungern müssen, wenn es so weiter geht!“
Die Hexe griff in ihren Rucksack und legte große Tortenstücke in den Korb. Das kleine Mädchen umarmte Katharina dankbar und diese setzte ihren Weg durch den tiefen Wald fort.“
„Soll die Großmutter doch sehen, wo sie bleibt“, meinte Gustav und fuhr sich mit dem Handrücken über den sahneverschmierten Mund.
„Hättest du ihr denn nichts zu essen gebracht?“
„Natürlich nicht, ich hätte mir ein gemütliches Plätzchen im Wald gesucht und alles selber aufgegessen.“
„Aber dann würde die Großmutter doch verhungern.“
„Was geht es mich an? Lies gefälligst weiter vor, sonst kürzt mein Vater deinen Lohn.“
„Die Hexe Katharina überquerte gerade die sieben Berge, als aus ihrem Bauch ein lautes Knurren ertönte. Sie hätte sich nun wirklich gern ein schöner Stückchen Kuchen gegönnt, aber ihr vorher noch schwer beladener Rucksack enthielt keinen einzigen Krümel mehr. Seufzend griff sie in ihre Schürze und zog die verzauberte Gabel hervor. Katharina hob das silberne Zauberding gerade an die Lippen, als sie plötzlich leises Weinen und traurige Harfenmusik vernahm. Sie steckte die Gabel schnell wieder in die Tasche und folgte der schluchzenden Melodie.
Hinter einigen alten Eichen stieß sie auf sechs Zwerge, die völlig in Tränen aufgelöst vor einem frischen Grab standen. Einer von ihnen drückte schniefend eine kleine eiserne Harfe an sich und spielte ein herzerweichendes Lied.
Verwundert fragte die Hexe Katharina, was ihnen denn schreckliches zugestoßen sei. Der Harfenspieler senkte sein Instrument und antwortete:
„Oh, diese zwei schlimmen Kinder! Hans und Grete schleichen durch den Wald und essen, essen und essen. Nichts bleibt mehr für andere übrig. Immer, wenn wir von der Arbeit heimkommen, haben sie bereits von unseren Tellerchen gegessen und aus unseren Becherchen getrunken! Unseren Bruder hat der Hunger in der letzten Nacht dahingerafft und uns geht auch bald die Kraft aus.“ Elend und ausgemergelt hob der Zwerg die kurzen Arme zum Himmel und seine fünf verbliebenen Brüder seufzten kraftlos.
Angesichts dieses Elends kam der Hexe ihr eigener Hunger völlig unbedeutend vor und sie schenkte den verzweifelten Zwergen ihre Zaubergabel. Von laut geschluchzten Dankesbekundungen begleitet, setzte sie ihren Heimweg fort.“
„Sie schenkt diesen dummen Zwergen auch noch etwas?“ Der kleine Prinz kratzte sich sein drittes Kinn.
„Hättest du das denn nicht getan?", erkundigte sich das Kindermädchen, ohne viel Hoffmnung in der Stimme.
„Natürlich nicht, warum denn? Die einen müssen schuften und die anderen essen Kuchen, so ist das halt in der Welt“
„Hast du denn gar kein Mitleid für die Zwerge?“
„Nein, ich mag keine Hungerleider.“
„Ich lese dann mal weiter“,seufzte das Kindermädchen.
„Nicht mehr weit von ihrem geliebten Lebkuchenhaus entfernt und schon voller Vorfreude auf die sie erwartenden Leckereien, entdeckte sie einen kleinen, dem Tode nahen Vogel auf dem Waldweg. Sein einst buntes Federkleid, war nun vor lauter Erschöpfung grau wie Kaminasche. Bestürzt hob sie das kleine Tier auf und fragte, was ihm schreckliches widerfahren sei.
„Oh, diese zwei schlimmen Kinder! Hans und Grete schleichen durch den Wald und essen, essen und essen. Nichts bleibt mehr für andere übrig. Ich finde in diesem Wald keine einzige Krume mehr, denn diese schrecklichen Kinder essen alles, was sie nur finden können restlos auf!“ Mit diesen letzten Worten starb der kleine Vogel noch in Katharinas Hand. Sie begrub ihn traurig und machte sich dann, vom immer lauteren Knurren ihres Bauches begleitet, auf den Weg zu ihrem Lebkuchenhaus.“
„Warum macht ein toter Vogel diese dumme Hexe denn traurig? Ich hätte mich gefreut und ihn einfach über einem Feuer gebraten.“
„Du magst gebratenes Fleisch wohl sehr gern, was?“
„Na, und ob, ich bekomme sogar schon Hunger, wenn mein Vater mal wieder eine von diesen Hexen verbrennen lässt. Wenn ich auf dem Thron sitze, verbrenne ich noch viele mehr“, verkündete Gustav stolz.
„Da bin ich mir sicher“,ächzte das Kindermädchen leise und sah wieder in das Märchenbuch.
„Stunden später und vor Hunger fast verrückt, erreichte Katharina endlich die Lichtung, auf der sie wohnte. Beim Gedanken an die Köstlichkeiten, die sie in ihrem Zuhause erwarteten, begann ihr Bauch noch lauter zu rumpeln und pumpeln, als jemals zuvor, doch was war das?! Wo ihr schönes Lebkuchenhaus gestanden hatte, lagen nun zwei dicke Kinder auf dem Lehmboden und strichen sich gesättigt rülpsend über die aufgequollenen Bäuche. Um sie herum standen noch Katharinas Möbel und ihr geliebter Backofen, aber das komplette Haus, Tortenwände, Zuckerfenster und Lebkuchendach waren verschwunden. Die Hexe konnte nicht glauben, was ihr hier widerfahren war und rief lauthals:
„Oh, diese zwei schlimmen Kinder! Hans und Grete schleichen durch den Wald und essen, essen und essen. Nichts bleibt mehr für andere übrig. Was soll denn jetzt meinen Hunger stillen, wo ich nur noch meinen Backofen habe, vor dem diese beiden fetten Landplagen liegen?“
Die kluge Hexe Katharina kam schnell von selbst auf die Antwort, knurrte lauter als ihr eigener Magen und stürzte sich auf Hans und Grete. Alles Betteln und Flehen half den beiden Vielfraßen nichts, denn mit den Kräften einer zornigen Hexe ist nicht zu spaßen und Katharina stopfte die Beiden gnadenlos in den Backofen und schmorte sie eine ganze Nacht und einen ganzen Tag lang lang.
So wurde der dunkle Wald durch die Kluge Hexe Katharina von Hans und Grete befreit und wenn sie nicht gestorben ist, dann isst sie auch noch heute.“
„Was für ein blödes Ende“, grunzte Gustav, bei dem Versuch ein ganzes Erdbeertörtchen am Stück herunterzuwürgen.
„Oh verzeiht, eure kleine, runde Majestät, aber das Märchen geht noch etwas weiter." Das Kindermädchen stand auf und blickte kalt auf den Prinzen herab.
„Das war noch nicht der Schluss?" fragte Gustav verunsichert.
"Nein, das... dicke Ende kommt erst noch", antwortete das Kindermädchen fröhlich.
„Nun, es war so: Einen ganzen Monat lang konnte Katharina sich an Hans und Grete satt essen und letztlich aus ihren blanken Knochen noch Suppe kochen. Weißt du, dabei kam sie einfach auf den Geschmack und dachte nicht mehr an Kuchen und Plätzchen, sondern fühlte einen unstillbaren Hunger auf dicke, böse Kinder. Wie dich“, flüsterte sie und ein böses Lächeln spielte um ihre Lippen.
„Das ist eine Unverschämtheit, mein Vater wird dich verprügeln und rauswerfen lassen! Wie heißt du?“, wollte Gustav stammelnd wissen und wich ängstlich zurück.
„Rate mal.“ Das Kindermädchen schob sich näher an das Himmelbett und Gustav hörte ein unbändiges Knurren aus ihrem Bauch...
...und wenn sie nicht gestorben ist, dann knurrt ihr Bauch noch heute.