Veröffentlicht: 28.08.2023. Rubrik: Unsortiert
Wo die kleinen Nichtse jagen
In den meisten Städten gibt es dieses eine Viertel. Eine Gegend, die obwohl ganz in der Nähe gelegen, doch so weit entfernt erscheint. Es gibt keinen Bus dorthin und nicht eine einzige Hauptstraße führt zu ihr. Kein Wegweiser weist auf ihre verwaisten Wege hin. Man findet schwer dorthin, aber leicht findet man sich dort plötzlich wieder. Zu anderen Orten mag man ja hinlaufen können, aber hierher kann man sich nur verlaufen.
Man spaziert durch bekannte Straßen, schlendert über vertraute Brücken und überquert routiniert stark befahrene Kreuzungen, bevor es einem plötzlich klar wird. Man ist da. Wer meint, man könne jetzt einfach umkehren und dorthin zurück gehen, wo man herkam, wird feststellen, dass hier an Irr-, Um-und Holzwegen kein Mangel herrscht, wohingegen Rückwege eher spärlich gesät sind. Wer sich in diesen Teil seiner Stadt verirrt, ist gut beraten auf sich aufzupassen, denn hier ist das Jagdrevier der kleinen Nichtse.
Das Erste, was einem auffällt, nachdem man sich kurz über die schäbige Pracht der hier hoch aufragenden Backsteinmauern gewundert hat, ist diese seltsam laute Stille. Sie ist ohrenbetäubend und durchbricht jedes fröhliche Lachen, übertönt jeden Schrei und zerreißt jedes Weinen mit ihrer Lautlosigkeit.
Nur vom Klang der eigenen Schritte auf dem nassen Pflaster begleitet, geht man weiter durch die gleißend dunklen Straßen, aber früher oder später füllt sich die Stille mit Geräuschen. Ein Rascheln in Schatten, die so alt sind, dass sie längst vergessen haben sich vor dem Licht zu fürchten und ein Kratzten hinter Türen, die niemals jemand öffnen wollte. Ein Trippeln in schnurgeraden Gassen, die einen immer nur im Kreise führen.
Das ist der Klang der kleinen Nichtse, die in diesem Viertel lauern. Immer hungrig, weil nichts sie nährt und stets wach, weil sie keine Ruhe kennen, gehen sie auf die Jagd. Zu sehen sind sie praktisch nie, obwohl es durchaus sein kann, dass mal eine schuppige Schwanzspitze hinter einer brüchigen Mauer verschwindet, oder hinter einem blinden Fenster zwei gelbe Augen aufblitzen. Unter so manch glitzernder Oberfläche einer trüben Pfütze verschwindet mit hektisch lautem Platschen etwas, das ein zu lang geratener Kiefer mit entschieden zu vielen Zähnen gewesen sein könnte.
Während man immer tiefer im Gewirr der rückwärts führenden Straßen und beklemmend weiten Plätze verschwindet, spürt man ihre kalten Blicke auf sich brennen. Kleine Nichtse wollen vieles. Necken und erschrecken, in tief verborgene Winkel kriechen und Verzweiflung riechen. Kratzen und beißen, quetschen und reißen. Viele von ihnen meinen es gar nicht böse und vertreiben sich so lediglich die Zeit, weil nichts langweiliger ist, als ein Nichts zu sein. Andere wollen fremde Schmerzen spüren, aber die Schlimmsten von ihnen, die großen kleinen Nichtse, zerren ihre Opfer so tief in ihr Viertel, dass sie nie mehr wiedergesehen werden.
Aber auch wenn der leckgeschlagene Mut in der aufsteigenden Angst zu sinken beginnt, ja, vielleicht sogar zu kentern droht, sollte man versuchen mit großer Eimern Mut zu schöpfen und nicht vor ihnen zu fliehen. Die kleinen Nichtse sind geschickte Jäger und blitzschnell. Mit jedem hastigen Schritt von ihnen weg, kommt man ihnen nur entgegen.
Auch würde man sich gern vor ihnen verstecken, aber das Verborgene sehen sie am besten. Sich davonzuschleichen verspricht auch keinen Erfolg, denn die Lautlosigkeit hören sie besonders deutlich.
Nicht ganz geheuer, nahezu schon ungeheuer, ist ihnen hingegen der normale Gang. Wenn die Nichtse jemanden hetzten, der nicht gehetzt wirkt, halten sie kurz misstrauisch inne und zögern. Einem Verirrten hinterherzujagen, der mit ruhigen Schritten auf sie zugeht, langweilt sie schnell.
Mit diesen kleinen Regeln im kühlen Kopf und im warmen Herzen kommt man der Grenze dieses Stadtviertels, das einem plötzlich eher wie ein Stadtachtel erscheint, schon bald immer näher. Die kleinen Nichtse bleiben nach und nach zurück, denn überleben können sie nur hier. Einige Besucher dieses Viertels erzählen in langen Nächten allerdings Geschichten, die von kleinen Nichtsen berichten, die ihr Revier tatsächlich verließen und dann zu großen Etwassen heranwuchsen.
Aber das sind nur Geschichten und in Geschichten ist ja bekanntlich alles möglich, oder?