Veröffentlicht: 06.09.2024. Rubrik: Nachdenkliches
When I close my eyes
Während ich durch den Schnee stapfte, rieb ich die Hände aneinander, damit ich bloß keine Wärme verlor. Es war Mitte März, und während ich und die ganze Welt auf die ersten Schneeglöckchen warteten, beschloss die Natur uns wieder ein Schnippchen zu schlagen, und stattdessen Schnee wie im tiefsten Finnland fallen zu lassen. Und als ich, wie jeden Sonntag, beschloss einen kleinen Spaziergang zu machen, hatte ich allen Wetterberichten und Warnungen zum Trotz Mütze und Schneehandschuhe zu Hause gelassen, und war nur mit einem leichten Mantel nach Draußen gegangen. Ich hatte immer noch die Warnung von Frau Müller im Kopf, wie sie krächzte: „Sind Sie sicher, dass Sie so nach Draußen gehen wollen? Es ist wirklich bitterkalt da draußen, als würde der Klimawandel heute Pause machen.“ Und ein Depp, wie ich einer war, hatte einfach nur nett gelächelt, und abgenickt: „Das geht schon so, danke.“
Als der Schnee begann, immer stärker zu fallen, und die Straßen immer leerer wurden, flüchtete ich auch in irgendeinen Laden, ohne auch nur darauf zu achten, wo ich landete. Nachdem ich die Tür öffnete, empfing mich eine wohlige Wärme, als würde ich bei meiner Oma am Kachelofen sitzen. Ich schaute hoch, und sah, dass ich in einem Bücherladen gelandet war. Glück gehabt.
In dem Laden roch es so unfassbar alt, als wären die Bücher schon seit Jahrhunderten an ihren Plätzen, als hätte sie niemand jemals bewegt, aus dem Regal genommen, angeschaut. Es war totenstill, und an dem Schreibtisch am Eingangsbereich war niemand zu sehen, also ging ich in den kleinen Verkaufsbereich. Die Bücher stapelten sich auf Tischen, und die Regale wirkten, als würden sie jeden Moment umfallen; ja, es sah tatsächlich so aus; als hätte eine Bombe in eine Bibliothek eingeschlagen. Ich schaute mich um, ob ich irgendeine Sortierung erkennen konnte, aber bei bestem Willen wirkte es so, als hätte man sie einfach irgendwo hingelegt.
Plötzlich hörte ich eine Stimme hinter mir, „Suchst du etwas Bestimmtes, mein Junge?“
Ich drehte mich um, und sah mich Auge in Auge mit einem Mann, der bestimmt schon Mitte siebzig war. Er trug einen beigen Rollkragenpullover, und eine braune Stoffhose, und dazu schwarze Schuhe.
„Nein, nein. Ich schaue mich nur um.“, erwiderte ich. „Dann viel Vergnügen.“, sagte er, und wollte sich gerade umdrehen, als mir noch ein Gedanke in den Kopf schoss, den ich schon ewig mit mir herumtrug, immer zu schüchtern zu fragen.
„Darf ich Ihnen eine Frage stellen, wenn Sie erlauben?“, sagte ich schnell, und spürte mein Herzklopfen, als der Mann sich seelenruhig umdrehte, und sagte: „Natürlich, mein Junge, ich hatte schon lange keinen zum Reden mehr.“
Ich nickte, und begann: „Naja, wissen Sie, ich habe mich immer gefragt, wie kommt es, dass man einen Bücherladen besitzt. Also, es ist nicht typisch für den Traum, den man im Leben verfolgt.“
Der Mann lächelte, und sagte dann: „Komm doch mit nach unten, mein Junge. Ich setze einen Tee auf, und erzähle dir meine Geschichte.“ Er ging voraus, und meine Füße folgten ihm, unabhängig davon, was ich dachte. Denn ich war unsicher, was ich gerade machte, warum ich einem fremden Mann mitten in seine Wohnung folgte und seine Lebensgeschichte hören wollte. Einen kurzen Moment zögerte ich, doch dann besiegte die Neugier die Scheu, und ich folgte dem Mann die knarzende Holztreppe nach unten.
Der ältere Herr schob einen Vorhang zur Seite, und gab den Blick frei für sein Wohnzimmer, dass relativ gemütlich mit einem Sofa, und Bücherregalen eingerichtet war.
„Setz dich, mein Junge. Ich mache mir einen Tee, möchtest du auch einen?“ Ich nickte zögerlich, und setzte mich auf das rote Sofa, und beobachtete die Bilder, die auf der Fensterbank neben dem Sofa standen. Eins der Bilder zeigte eine Hochzeit, ein anderes einen kleinen Jungen. Ich möchte gerade wieder aufstehen, um mir die anderen Bilder anzuschauen, als der Mann wieder den Raum betritt und mir eine smaragdgrüne Tasse reicht. Er lächelt, und setzt sich.
„Das Wetter ist wirklich furchtbar, nicht wahr?“, fragte er und schaute nachdenklich durch sein Fenster. Ich nickte nur, und nippte an meinem Tee, der mich zumindest wieder ein wenig erwärmte.
„Du willst also wissen, was einem zu einem Buchladenbesitzer macht?“, fragte er und schaute mich interessiert an.
Ich nickte erneut schüchtern, und er lächelte nur.
„Nicht so schüchtern, mein Junge. Wir haben alle Fragen, die wir stellen wollen, und doch trauen wir uns nicht. Also, wenn man endlich den Mund aufmacht, dann verdient man damit den größten Respekt. Also, meine Geschichte, vielleicht erwartest du jetzt irgendeine Hollywoodreife Geschichte, aber so ist das nicht im Leben. Aber jeder Mensch hat Geschichten, die ihm zu den machen, der er ist. Und jetzt erzähle ich dir meine…
Ich wurde zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort geboren. In ein anderes Leben. Meine Eltern waren reich, aber sie verdankten es nicht irgendeinem Verwandten, der vor Jahrhunderten die richtige Entscheidung getroffen hatte, sondern sie hatten es sich erarbeitet. Mein Vater war als fünftes von 10 Kindern geboren, und wurde häufig vernachlässigt als mittleres Kind, also entschloss er sich dafür zu sorgen, dass ihn seine Eltern nie wieder vernachlässigten. Er arbeitete härter, länger und erfolgreicher als jeder andere, und als er dann meine Mutter traf, war ein betuchter Mann, bereit für den nächsten Schritt.
Aber meine Mutter war anders. Ihr Vater war ein einfacher Lehrer gewesen, ihre Mutter hatte nie gearbeitet, aber trotzdem haben sie meine Mutter immer ermuntert, mehr aus ihrem Leben zu machen. Sie war ein aufgewecktes Kind, konnte früh lesen und schreiben. Meine Mutter las unfassbar viel, aber in ihr regte sich immer mehr der Wunsch, selbst etwas zu erschaffen. Etwas zu kreieren, dass größer war als sie selbst. Als sie meinen Vater zum ersten Mal traf, im Foyer des Kinos in ihrer Nachbarschaft, und ihre Augen versunken, fühlte sie zum ersten Mal etwas anderes als nur den Wunsch, etwas zu erschaffen. Es war der Wunsch, zu lieben und aus dieser Liebe entstand ich. Ich wuchs sehr behütet auf, und meine Mutter zog sich mehr und mehr von ihrem Wunsch zurück, etwas zu erschaffen, und konzentrierte sich stattdessen auf meine Erziehung. Sie gab mir die Bildung, die sie einst von ihren Eltern erhalten hatte, und ich wuchs umgeben von Büchern und Geschichten auf. Ich wurde älter und älter, bis ich schließlich auf mich selbst aufpassen konnte. Doch dann geschah es.
Ein betrunkener LKW-Fahrer fuhr über eine rote Ampel, und crashte ein anderes Fahrzeug, dass meterweit durch die Luft geschleudert wurde. Die Fahrerin hatte keine Chance. Die Fahrerin war meine Mutter.
Als mein Vater und ich es erfuhren, brach eine Welt zusammen. Wir beide reagierten unterschiedlich auf diese Tragödie, und während er in seiner Arbeit versank, machte ich es mir zur Aufgabe, die Lebensaufgabe meiner Mutter zu beenden. Ich wollte ein Buch erschaffen, dass so groß werden würde, dass es uns alle überragte. Aber ich schaffte es. Ich reiste um die Welt, ich saß tagelang vor dem Schreibtisch. Aber mein Kopf war so leer wie am Tag meiner Geburt. Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte vergingen.
Ich floh aus meinem Zuhause, was zu einem Gefängnis verkommen war. Ich ließ alles hinter mir, zog in diese Stadt, verkaufe Bücher, und warte, dass es zu ende geht.
Dass ich endlich meine Mutter wiedersehen kann“, beendete er seine Geschichte.
Ich musste schlucken, und plötzlich kam mir sein kleines Wohnzimmer noch viel kleiner vor.
„Endet man so, wenn man nur seinem Kopf vertraut?“, fragte ich. Er schaute auf, und dachte nach.
„Ich weiß es nicht.
Oscar Wilde sagte einmal, „Alles wird gut am Ende. Und wenn es nicht gut wird, ist es nicht das Ende.“ Doch je mehr Zeit verstreicht, und ich weiter aus dem Fenster schaue und über die Zukunft grüble, desto mehr frage ich mich, ob es für mich überhaupt ein Ende geben wird.“