Veröffentlicht: 04.07.2024. Rubrik: Unsortiert
Alles was Räder hatte
In der Schifferstraße bin ich aufgewachsen. Dort steht heute noch der damals hoch moderne Wohnturm mit den kleinen Balkonen zur Südseite hin. Dort wohnten zum Teil auch meine Spielkameraden. Wenn wir unsere Welt mal nicht am Weserbahnhof, im Hafengebiet oder in den Kellern unseres Wohnblocks zu entdecken suchten, verbrachten wir unsere Zeit nach der Schule in der Nähe unserer Elternhäuser. Wir träumten gemeinsam von einem neuen Fahrrad mit einer Dreigangschaltung der Marke Torpedo und einem Tachometer mit Kilometerzähler.
Ich fuhr damals mit einem klapprigen Damenfahrrad durch die Gegend. Der alte Drahtesel hatte schon bessere Tage erlebt. Die Vorderbremse war so primitiv, dass ich mich beinahe dafür schämte. Ein grober Gummiklotz wurde über einen Handhebel am Lenker erbarmungslos auf den Reifen gepresst. Es quietschte laut und bremste wenig. Ich wünschte mir eine moderne Felgenbremse für mein Rad. Also dachte ich darüber nach, wenigstens das Hinterrad mit einer wirkungsvollen Felgenbremse auszurüsten. Meine kleinen Ersparnisse reichten tatsächlich für diese Investition aus. Der Fahrradhändler am Steffensweg machte mir einen fairen Preis. So kam ich mit der Bremse und einem extra langen Bowdenzug nach Hause. Ich langte in die Werkzeugkiste und ging mit dem passenden Schlüssel gleich ans Werk. Ich muss dazu sagen: Wer wie ich in einem Facharbeiterhaushalt aufgewachsen ist, der wurde schon früh mit den wichtigsten Werkzeugen vertraut gemacht. Ein kleines Problem hatte ich in meinem Enthusiasmus nicht bedacht. Ein Damenrad hat keine Querstange wie ein Herrenrad, wo üblicherweise der Bremszug für die hintere Bremse verlegt wird. Für die Verlegung des Zuges im unteren Bereich war er zu kurz. Das war mir alles egal. Frei hängend legte ich den Zug waagerecht nach hinten. Und siehe da, die Bremse bremste – aber nur mäßig, weil die Räder des alten Rades keine wirklichen Felgen für eine moderne Bremse aufwiesen. Auch das war mir egal. Die ganze Konstruktion sah total skurril aus. Nun aber hatte mein alter Drahtesel diese zukunftsweisende Bremse. Ich war einigermaßen zufrieden.
Wir träumten in jenen Zeiten von allen Vehikeln, die Menschen von A nach B bringen konnten. Autos bewunderten wir beim Wechsel der Autoquartettkarten. Fahrräder bestaunten wir im Schaufenster des Fahrradhändlers. Unser großer Traum aber war das BMW-Motorrad eines Nachbarn. Eine sogenannte R65S. Das war die Göttin auf zwei Rädern. Immer wenn dieses Gefährt in unsere Straße einbog, nahmen wir den wunderbaren blubbernden Sound dieser Maschine war. Für uns war das wie Rockmusik, obwohl wir damals erst um die dreizehn Jahre alt waren.
In einem Anflug von Verehrung gegenüber diesem Motorrad polsterten wir dann unsere Gepäckträger mit Schaumstoff und viel Klebeband. So hatten wir eine Sitzbank wie sie bei Motorrädern üblich ist. Dann klemmten wir Pappstreifen mit einem Gummiband an den Schutzblechhalter und knatterten auf unseren “Feuerstühlen“ los.
Dann kam der Tag, an dem ein etwas älterer Kollege mit seiner blitzblanken neuen Kreidler vorfuhr. Uns fielen beinahe vor Erstaunen die Augen aus dem Kopf. Alles was Räder hatte und gut motorisiert war, weckte in uns neue Interessen und Phantasien. Inzwischen fuhr ich tatsächlich ein gebrauchtes Fahrrad mit Torpedo-Gangschaltung, Kilometerzähler, Rückspiegel und Felgenbremse, die sich als sehr bissig entpuppte.
Dann passierte etwas Seltsames. Eines Tages rollte ein merkwürdiges Gefährt durch unsere Straße. Es hatte drei Räder, einen bequemen Sitz mit langgezogener Stütze für die Füße und zwei ausgeklügelte Handhebel zum Vorwärtsbewegen. Es war ein Rollstuhl der besonderen Art. Eine Konstruktion, die Bequemlichkeit nicht nur suggerierte.
In diesem Dreirad-Rollstuhl saß ein etwas älterer Junge aus einem benachbarten Stadtteil. Wie ein König in seiner Kutsche rollte er elegant an uns heran. Seine Füße steckten in einem zu diesem Gefährt gehörenden Fußsack. Wir waren unschlüssig darüber, ob wir über diesen Anblick jetzt lachen sollten oder lieber nicht. Über Menschen in Rollstühlen gab es nichts zu lachen, so meine Eltern. Der Junge meinte aber er sei völlig in Ordnung, er könne gehen. Den Rollstuhl habe er sich von seiner Oma ausgeliehen. Wir prusteten vor Lachen los. Das war eine merkwürdige Nummer. Der Verrückte Kerl setzte sich einfach in den Rollstuhl seiner Oma und unternahm damit völlig ungerührt eine kleine Stadtrundfahrt. Wir bogen uns und lachten uns schräg.
Wenige Wochen später machte mich meine Mutter auf einen Artikel in der Zeitung aufmerksam. Auf einer Landstraße hatte es einen schweren Unfall gegeben. Zwei Jugendliche waren mit einer Kreidler bei hoher Geschwindigkeit von der Straße abgekommen. Beide hatten bei dem Unglück ihr Leben verloren.
Einer der Jungen hatte uns vor einem knappen Monat – im Rollstuhl seiner Oma – unglaublich zum Lachen gebracht.