Veröffentlicht: 17.05.2024. Rubrik: Menschliches
Der Clown
Sein Zirkuswagen steht ganz außen am Rand des Geländes, von hier aus hat er den besten Blick. Stumm sitzt er auf dem Treppenaufgang und liest die Kritiken des Vorabends. Keine Regung ist in seinem Gesicht zu erkennen, denn er kennt die Kritiken schon, bevor sie überhaupt geschrieben wurden.
Die Kollegen, die vorbeikommen, grüßen ihn freundlich und er grüßt genauso freundlich zurück, nicht ohne den subtilen Hinweis in seinen Gruß zu legen, dass keine Gesprächsbereitschaft vorliegt.
Seine innere Uhr verrät ihm, dass es Zeit wird, sich für die erste Vorstellung des Tages bereit zu machen. Ein altbekanntes Gefühl erwacht in ihm, er hasst die Maskerade, aber sie bietet ihm die einzige Möglichkeit, sein Publikum unterhalten zu können, ohne sich zu offenbaren.
Die Fähigkeit zum Unterhalten wurde ihm in die Wiege gelegt, während sich alles in ihm sträubt, sich für sein Publikum zu öffnen. Er gehört ihnen nicht! Sie zahlen, er liefert, so ist der Deal. Das Schminken ist zu einem Ritual geworden. Bereits der Geruch der Schminke schenkt ihm ein Unwohlsein und das Auftragen wird von Widerwillen begleitet. Doch der Nutzen überwiegt bei weitem seine Abneigung.
Nach dem letzten Pinselstrich verwandelt er sich, nun ist er nicht mehr er selbst. Er ist zu dem geworden, der seinem Publikum den Spiegel vorhalten wird, und er weiß, nur die wenigsten werden es erkennen. Er schenkt ihnen die Möglichkeit, über sich selbst lachen zu können, was sie sich sonst nie erlauben würden. Für wenige Minuten befreit er sie, während sie von ihm nur eines sehen, ein bunt überschminktes Gesicht.
Der Applaus ist sein Lohn, die Bestätigung, dass er sein Publikum zu führen weiß. Wie Marionetten hängen sie an seinen Fäden und er kennt jeden ihrer Lacher im Voraus. Mit seiner letzten Verbeugung entlässt er sie wieder in ihr Leben, so wie er in seines zurückkehrt.
Das Abschminken erleichtert ihn, und er gönnt sich das erste ehrliche Lächeln des Tages. Morgen werden sie abbauen und weiterziehen, er wird die Kritiken lesen und erfahren, dass es so war wie immer. Sein Publikum wird den Clown vermissen, nicht ihn, er wird bereits unterwegs sein und sich in wenigen Tagen nicht mehr an sein Publikum erinnern. Und wenn er dann, irgendwann für ewig die Manege verlässt, wird immer noch niemand wissen, wer er als Mensch wirklich war.