Veröffentlicht: 03.01.2024. Rubrik: Aktionen
Nette Menschen unter sich (Januar-Aktion Thema Fake)
„Bis morgen!" Mit diesen Worten verabschiedeten sie sich im Chat immer. Zufrieden loggte Sylvia sich auf der Seite aus, die sich „Nette Menschen unter sich" nannte. Hier hatte sie Carl Ludwig vor einigen Monaten kennengelernt. Zunächst hatten sie, angeregt von einer Diskussion im Forum der Seite, über Literatur, Philosophie und bekannte Autoren geschrieben, und Carl-Ludwig hatte Sylvia für ihre Kenntnisse und ihre Sicht auf die Welt bewundert. Von da aus war es nur ein kleiner Sprung zu ihren Interessen und Hobbys, und schließlich tauschten sie sich über private Erlebnisse aus und erzählten sich immer mehr. Sylvia berichtete über ihr Leben als Single, mit einigen Ausschmückungen (die tolle „amerikanische" Party, auf der sie letzte Woche angeblich gewesen war, hatte gut 10 Jahre früher stattgefunden, und beim Tanzen hatte sie auch nicht den ersten Platz gemacht), aber wer übertrieb im Internet nicht ein wenig mit seinen Vorzügen. Carl Ludwig hatte ihr geschrieben, er sei sehr sportlich und würde jeden Morgen joggen. Laut eigenen Angaben war er immerhin schon 48 Jahre alt. Da musste Sylvia schließlich auch etwas zu bieten haben. Bei ihrem Alter hatte sie ein klein wenig geschummelt. Aber was waren schon 10 Jahre mehr oder weniger. Hieß es nicht, auf die inneren Werte komme es an? Da war es auch egal, dass sie ihm ein Foto geschickt hatte, auf dem ihre beste Freundin zu sehen war, die optisch einfach einen viel besseren Eindruck machte. Carina war sehr fotogen. Und Sylvia sah auf Fotos nie gut aus. Aber auch auf das Aussehen kam es ja nicht an. Lächelnd nickte sie vor sich hin. Wie schön, Carl Ludwig als Freund zu haben.
Carl Ludwig fuhr seinen PC herunter. Eigentlich komisch, dass Sylvia noch nie nach einem Treffen gefragt hatte. Nicht, dass er eines gewollt hätte, aber die meisten Frauen, mit denen er gechattet hatte, bestanden früher oder später darauf. Deswegen hatte er alle Internetbekanntschaften nach einiger Zeit beenden müssen.
„Soll ich dir helfen, Carl?" Seine Schwiegertochter kam ins Zimmer. „Möchtest du zu Bett gehen?"
„Noch nicht." Carl drückte auf einen Knopf an seinem Rollstuhl und fuhr vom PC aus auf die andere Seite des Zimmers. Seine Schwiegertochter war ausgebildete Krankenschwester und war ihm jeden Tag behilflich bei den Dingen, die er nicht mehr gut bewältigen konnte. Sein Sohn hatte sie kennengelernt, als er nach Carls Schlaganfall vor zwei Jahren eine Pflegekraft für ihn suchte, die auch im Haus wohnen wollte. So war eines zum anderen gekommen, und mit der jetzigen Situation waren alle zufrieden. Der Schlaganfall hatte damals zu einer halbseitigen Lähmung geführt. Inzwischen hatte sich dies wieder verbessert, aber ganz ohne Rollstuhl und ohne Hilfe kam Carl seitdem nicht zurecht.
„Dann ruf mich, wenn du mich brauchst", sagte seine Schwiegertochter, wie jeden Abend, doch heute sah sie ihn noch abwartend an. Carl wusste ihren Gesichtsausdruck erst nicht zu deuten. Dann ging ihm ein Licht auf.
„Meinetwegen, dann ladet halt am Wochenende ein paar Leute ein", sagte er. „Ihr wollt euch die Arbeit ja unbedingt machen."
„Das ist keine Arbeit, Carl." Seine Schwiegertochter lächelte. „Und neunzig Jahre wird man nicht alle Tage."