Veröffentlicht: 08.12.2023. Rubrik: Aktionen
Ein Winternachmittag 1980
Winter 1980
„Das sieht lustig aus", sagte Maren, während sie die Gardine beiseite schob und zum Fenster hinausspähte. Draußen wirbelten dicke Schneeflocken in der Dämmerung und überzogen nach und nach die Landschaft mit leuchtendem Weiß. Die parkenden Autos am Straßenrand waren bereits zugeschneit, und sogar auf der Straße blieb der Schnee liegen.
„Oh, ist das schön!" Marens Freundin Jessica stand vom Schreibtisch auf, an dem sie zusammen Hausaufgaben gemacht hatten und stellte sich neben Maren ans Fenster. Verzückt betrachteten beide das Schneetreiben.
„Bei uns bleibt der Schnee gar nicht liegen." Jessica wohnte ein paar Kilometer weit weg im Tal und staunte immer wieder darüber, dass ein paar hundert Meter mehr über dem Meeresspiegel so viel anderes Wetter ausmachten. Das Dorf, in dem Maren mit ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder lebte, lag knapp 600 m über dem Meeresspiegel, die Stadt, in der Jessica lebte, noch nicht einmal 200.
„Ja, das ist schön hier", stimmte Maren zu. „Aber dafür kommt bei dir der Schulbus auch im Winter pünktlich."
„Das soll ich jetzt positiv sehen?" Jessica zog eine Grimasse. Maren musste lachen.
„Willst du vielleicht bei mir schlafen?", schlug sie vor. „Vielleicht kommt der Schulbus ja morgen nicht, und wir haben schneefrei."
Sie hatte den Satz noch nicht ganz ausgesprochen, als es an der Tür klingelte.
„Das war's", seufzte Jessica, „das ist meine Mutter." Sie hörten, wie Johannes, Marens elfjähriger Bruder, an die Tür rannte, sie aufriss und „Jessica kommt gleich" verkündete. Gleich darauf quietschte er: „Minka, bleib hier!"
„Ich hab sie", hörten sie die Stimme von Jessicas Mutter, und als die beiden Mädchen zur Tür kamen, überreichte sie Johannes gerade die große schwarze Katze, die seit vier Wochen zur Familie gehörte.
„Danke!" Johannes drückte die Katze an sich, die protestierend miaute und zappelte.
„Pass doch auf!", fuhr Maren unwillig ihren Bruder an, „Minka soll bei dem Wetter nicht raus, es ist viel zu kalt!"
„Sie ist ja wieder drin", sagte Jessicas Mutter beschwichtigend. „Na, habt ihr alle Schularbeiten erledigt?"
Die Mädchen nickten eifrig.
„Da bringt der Nikolaus aber bestimmt ein schönes Geschenk, wenn ihr so fleißig wart", sagte Jessicas Mutter lächelnd. „So, Jessica, dann verabschiede dich schnell, ehe die Straßen unpassierbar werden." In der Tat schneite es immer mehr große Flocken.
Als Jessica mit ihrer Mutter verschwunden war, fiel Maren erst ein, dass auch ihre Eltern Schwierigkeiten beim Autofahren haben könnten. Sie arbeiteten beide in der gleichen Firma, und heute Mittag fand die Weihnachtsfeier statt, die bis mindestens 19.00 Uhr dauern würde. Es war erst halb fünf.
„Wir können euch doch die paar Stunden alleine lassen, du passt doch auf Johannes auf? Sonst muss ich Tante Ella fragen", hatte Marens Mutter gesagt , und Maren hatte sich sofort bereit erklärt, den Babysitter für ihren Bruder zu spielen. Mit vierzehn Jahren fühlte sie sich der Situation gewachsen, und außerdem - Tante Ella? Se war eigentlich eine Großtante, die im übernächsten Dorf wohnte und die die Angewohnheit hatte, Maren auszuquetschen - was sie in der Schule gerade machten und ob sie ihrer Mutter auch immer im Haushalt helfen würde. Maren mochte sie nicht besonders. Und auf Johannes aufzupassen, war nicht wirklich eine große Sache, er spielte meist in seinem Zimmer und man bemerkte kaum, dass er da war.
Maren fiel plötzlich ein, dass sie noch die Prospekte mit den Angeboten für das Lebensmittelgeschäft im Dorf austragen musste. Sie hatte sich dafür gemeldet, um ihr Taschengeld ein wenig aufzubessern. 15 Mark im Monat waren nicht viel, und das Lebensmittelgeschäft zahlte für jeden Tag, an dem sie die Prospekte austrug, 5 Mark. Das Blöde war nur, wenn sie es nicht tat, gab es auch kein Geld. Die Prospekte holte Maren immer montags ab und trug sie dienstags aus. Heute war Dienstag, und die Prospekte lagen immer noch friedlich in ihrem Zimmer. Dann würde sie eben jetzt gehen und Johannes mitnehmen. Alleine wollte sie ihn nicht zu Hause lassen.
Johannes war begeistert. „Juchhu, raus in den Schnee!" Er war flinker als Maren in Anorak und Mütze geschlüpft.
Die Geschwister machten sich auf den Weg, und nach anderthalb Stunden waren alle Prospekte verteilt. Johannes hüpfte im Schnee herum und versuchte, Schneebälle zu formen. „Lass das, wir machen keine Schneeballschlacht. Wir gehen jetzt nach Hause", sagte Maren bestimmt, froh, wieder ins Warme zu kommen. Es hatte immer noch nicht aufgehört zu schneien.
Zu Hause angekommen, holte sie ihren Schlüssel aus der Hosentasche und schloss auf. In dem Moment traf sie ein kleiner Schneeball im Rücken, und Johannes kicherte.
„Na warte!" Maren bückte sich, um ebenfalls einen Schneeball zu formen. In dem Moment schoss etwas Schwarzes auf vier Beinen an ihr vorbei und verschwand im Nu aus ihrem Blickfeld.
„Minka!", kreischte Johannes. „Minka ist weggerannt!"
„So ein Mist!"
„Wir müssen sie suchen!" Johannes stürmte in die Richtung davon, in der Minka verschwunden war.
„Johannes! Bleib hier! Minka kommt schon von allein zurück!" Maren rannte ihrem Bruder hinterher. Sie hatte ihn fast eingeholt, als er wie angewurzelt stehenblieb. Maren packte ihn bei der Hand, was er sich zu ihrer Verwunderung gefallen ließ. Dann sah sie den Grund: In einiger Entfernung stand ein großes braunes Tier auf der Straße.
„Das ist ein Rentier", flüsterte Johannes.
„Nein, ein Reh. Hat sich wohl verlaufen." Doch dann fiel Maren etwas Merkwürdiges auf: Am Himmel war ein kleiner roter Punkt zu erkennen, der langsam näher kam. Verblüfft sahen die Kinder etwas durch die Luft sausen, was wie ein Schlitten mit einem Weihnachtsmann im roten Mantel aussah. Nach ein paar Sekunden war es verschwunden. Als Maren wieder auf die Straße blickte, war auch das Rentier nicht mehr zu sehen.
„Der Weihnachtsmann hat das Rentier abgeholt", sagte Johannes.
„Quatsch, den Weihnachtsmann gibt es gar nicht. Du glaubst ja wohl nicht mehr dran, dafür bist du schon viel zu alt."
Aber Maren war sich selbst nicht ganz sicher. Es war doch eindeutig ein Schlitten am Himmel zu sehen gewesen?
Als sie nach Hause kamen, saß Minka vor der Haustür und miaute herzerweichend. Johannes nahm sie auf den Arm. „Hast du auch den Weihnachtsmann gesehen, Minka? Hat er dich gefunden und nach Hause gebracht?"
„Es gibt keinen Weihnachtsmann", wollte Maren sagen, aber dann sah sie das kleine rote Glöckchen um Minkas Hals.