Veröffentlicht: 20.09.2023. Rubrik: Märchenhaftes
Greta und der Zauberer
Die Abendsonne tauchte die kleine Hütte in warmes rotgoldenes Licht. Greta schaute von ihrem Platz am Küchentisch auf und sah verträumt zum offenen Fenster hinaus. Langsam ging die Sonne als glutroter Ball unter.
„Bald werde ich den Sonnenuntergang zusammen mit dir ansehen können", flüsterte sie halblaut. Dabei strich sie zärtlich über ihren Bauch und prustete vor Glück, als ihr ein Strampeln antwortete.
Vor dem Fenster war ein „Krah, krah" zu hören. Roderich, der komplett schwarze Rabe, stolzierte auf dem Fensterbrett einige Male hin und her, ehe er seine Schwingen ausbreitete, zum Fenster hinein flog und sich auf Gretas linker Schulter niederließ. Greta seufzte. „Ja, ich weiß schon, was du mir sagen willst."
„Es wird Zeit, Herrin. Du musst es ihm bald sagen", antwortete der Rabe.
„Er hielt mich für Corinne..."
„... deren Gestalt du angenommen hattest ..."
„Ich war schon so lange in ihn verliebt ... Kein Zauber konnte das ändern!"
„Wusste er das?"
Greta schüttelte den Kopf. „Ich habe es ihm nie gesagt. Wie hätte ich meiner Freundin je wieder in die Augen sehen können?"
„Und jetzt ist es fast neun Monde her. Herrin, Herrin, was hast du dir nur dabei gedacht?"
Greta schlug die Augen nieder. „Er tat mir so leid", flüsterte sie. „Corinne war fünf Monate zuvor gestorben. Ich sollte ihm Kunde von der Zauberin Mona bringen, die ihn zu heiraten wünschte. Ich konnte es nicht."
„Aber verführen, das konntest du ihn. Wäre ich nur mitgekommen, Herrin. Ich hätte dich von dieser unüberlegten Tat abgehalten." Der Rabe schmiegte seinen Kopf an ihre Wange. Dann wies er mit dem Schnabel auf den Küchentisch, der mit Hunderten von Zetteln übersät war. „Was um alles in der Welt ist das?"
„Rezepte", antwortete Greta kleinlaut, und der Rabe stöhnte.
„Etwa für einen Liebestrank?"
Greta nickte. Der Rabe setzte zu einer Schimpfkanonade an, verschluckte diese dann aber.
„Du wirst es ihm morgen sagen. Ich komme diesmal mit dir, Herrin. Im Morgengrauen brechen wir auf."
Und so geschah es.
Zur Mittagszeit hatten sie mit der Kutsche über die Hälfte des Weges hinter sich gebracht. Nun wandelte sich die breite Straße zu einem schmalen lehmigen Weg, in dem die Kutsche nicht vorwärtskommen konnte. Greta und Roderich stiegen aus, und Greta hieß den Kutscher umzukehren und am nächsten Tag an der gleichen Stelle auf sie zu warten. Everett, der Zauberer, den Greta verführt hatte, wohnte tief im Waldesinneren. Man kam nur zu Fuß - oder wie Roderich - per Flug hin.
„Du hast es gut", murrte Greta, „für mich ist der Weg beschwerlich. Vor neun Monden war ich beweglicher."
„Das ist mir durchaus klar, Herrin." Der Rabe flatterte vor ihr her. „Aber so weit ist es nicht mehr."
Greta wollte spielerisch nach ihm schlagen, griff in die Luft, übersah dabei eine Wurzel am Boden und stolperte. Sie fing sich gerade noch rechtzeitig, sodass es zu keinem Sturz kam. Trotzdem durchfuhr sie in diesem Moment ein scharfer Schmerz im Unterleib, und ungewollt stöhnte sie laut auf.
Roderich kam zurückgeflattert und sah sie besorgt an. „Was ist, Herrin? Geht es dir nicht gut?"
„Ich weiß nicht." Der Schmerz war so schnell verschwunden, wie er gekommen war.
„Hoffentlich geht es nicht schon los", sagte der Rabe besorgt. „Ich hatte gehofft, wir seien rechtzeitig zur Geburt zurück."
„Es ist ja nicht mehr weit." Greta stapfte vorwärts.
Nach einer Stunde kam eine Lichtung in Sicht, und nachdem Greta und Roderich sie erreicht hatten, sahen sie auch Everetts kleine Hütte am Waldesrand, aus der Rauch aufstieg.
„Er ist zu Hause!", rief Greta. Und in diesem Moment trat Everett, der Zauberer, aus der Tür. Er war mit einem langen blauen Umhang mit goldener Stickerei bekleidet und trug einen schwarzen Zylinder auf dem Kopf, ganz so, als habe er vor, auszugehen.
„Ich fliege ihm entgegen!" Roderich flog auf ihn zu und landete vor Everett, der ihn erstaunt betrachtete, auf dem Boden. Roderich neigte den Kopf, um eine Verbeugung anzudeuten.
„Großer Meister!", begann er, „wir sind gekommen, um ..."
Weiter kam er mit seiner feierlichen Rede nicht. Everett hatte auf die langsam näher kommende Gestalt geschaut und stieß nun einen Freudenschrei aus. „Greta, Greta, wie schön, dich endlich mal wieder zu sehen!" Er schloss sie in die Arme. Glücklich und erschöpft hielt Greta still, bis er sich sanft von ihr löste und sie betrachtete. Verblüffung zeigte sich auf seinen Zügen. „Du bist guter Hoffnung", stellte er fest. „Hast du geheiratet?"
Greta schüttelte den Kopf, und Everetts Gesicht verfinsterte sich. „Hat dich der Schuft etwa in der Situation sitzenlassen?"
„Nein, er ... er weiß gar nichts davon."
„Aber meine Herrin wird es ihm heute noch sagen", mischte sich Roderich, der das Wiedersehen aus der Luft beobachtet hatte und nun auf Gretas linker Schulter landete, in das Gespräch ein.
„Ach, halt den Schnabel", sagte Greta halblaut. Im nächsten Moment zuckte sie zusammen. Der gleiche scharfe Schmerz wie vorhin hatte sie wieder gepackt, und sie konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken.
„Komm rein und setz dich erstmal hin", bot Everett ihr an. Dankbar folgte sie ihm in sein Haus. „Ich möchte aber nicht zur Last fallen. Du hattest sicher vor, auszugehen?"
„Ja, aber das ist nicht wichtig." Bildete sie es sich ein, oder schaute er sie wirklich zärtlich an?
„Möchtest du einen Hagebuttentee?", fragte er.
„Ja, der wird mir gut tun", wollte Greta antworten, doch stattdessen musste sie wieder aufstöhnen, da der Schmerz von vorn begann.
Roderich flatterte aufgeregt um sie herum, und Everett strich ihr sanft über den Kopf.
„Ich glaube, das Kind kommt", sagten alle drei gleichzeitig.
Sieben Stunden später erblickte Gretas und Everetts Tochter das Licht der Welt. Erschöpft, aber glücklich lag Greta in Everetts Bett und hielt ihre Tochter im Arm.
„Wie willst du sie nennen?", fragte Everett.
„Eveline", sagte Greta und fügte dann hinzu: „Nach dir. Wenigstens die ersten drei Buchstaben.
„Nach mir?" Everett sah sehr erstaunt aus.
„Ich muss dir etwas sagen. Es ist dein Kind." Ängstlich sah sie ihn an und wusste nicht, wie ihr geschah, als Everett schmunzelte und dann in lautes Lachen ausbrach.
„Das vermutete ich", sagte er schließlich.
„Aber ... wieso ... woher weißt du das?"
„Ich hatte dich damals durchschaut, du liebes kleines dummes Ding. Du dachtest, ich sehe Corinne, aber ich sah dich. Ich bin ein Zauberer, weißt du? Dein Rabe hat mich ‚großer Meister' genannt. Ich will ja nicht angeben, aber Zaubereien von Eleven durchschaue ich."
„Dann hast du alles gewusst? Warum hast du mich nicht fortgeschickt?"
„Weil ich immer schon ein kleines bisschen verliebt in dich war." Everett hob ihr Gesicht ein wenig an und sah ihr in die Augen.
„Und das wird auch immer so bleiben. Nein, es wird mehr werden." Er schloss sie in die Arme.
Und so lebten beide glücklich und zufrieden und noch mit vielen weiteren Kindern bis an ihr Lebensende. Und jedem, der es hören wollte, erzählte Roderich, wie er es geschafft hatte, dass beide zusammenkamen.