Veröffentlicht: 18.07.2023. Rubrik: Grusel und Horror
Fremde Zungen
Zu später Stunde erreichte mich der Bote. Er übergab mir einen Brief meines zu dem Zeitpunkt verstorbenen Vetters und entschuldigte sich direkt für die Störung. Er beharrte jedoch auf die Dringlichkeit, mir den Brief sofort bei Ankunft übergeben zu müssen. Leicht irritiert nahm ich den Brief entgegen. Als ich mich vom Boten abwendete, um ihn für seine Mühen zu entlohnen, war er beim Blick zur Tür verschwunden. Ich blickte den Weg runter. Schaute links und rechts. Er war wie vom Erdboden verschluckt.
Von der Neugier geplagt, nahm ich die Petroleumlampe aus dem Flur und ging ins Arbeitszimmer. Ich legte den Brief auf meinen Arbeitsplatz am Fenster und zündete ein paar Kerzen an. Der Brief war in einer Hast geschrieben, die es mir schwer machte ihn fließend zu lesen. Mein Vetter sprang von Thema zu Thema. Ich vermag mich an den Inhalt des Briefes nicht mehr zu erinnern. Das Einzige, was mir im Kopf geblieben ist, war die Bitte, dass ich nach Erhalt des Briefs sofort aufbrechen soll.
Dem Wunsch entsprechend, war ich am nächsten Tag vor dem Aufgehen der Sonne am Bahnhof. Es war das erste Mal, dass ein Zug so früh aufbrach. So stand ich alleine am Gleis. Auf die Minute genau fuhr der Zug ein. Die Dampflok war ein älteres Modell und zog einen Kohlewaggon sowie zwei Waggons hinter sich her. Ich saß alleine im Zug und ohne einen einzigen Halt fuhren wir in das Dorf meines Vetters.
Am Bahnhof angekommen - wenn man es den so nennen mag, da er lediglich aus zwei Gleisen mit einer überdachten Bank zwischen ihnen bestand - herrschte zum Glück etwas Leben. Die Leute starrten zu mir hinüber. Ihre Blicke wirkten angespannt. Alle trugen lange unförmige Mäntel und wie ich schnell feststellte, waren sie alle größer als ich gewesen. Mit den Blicken im Nacken bock ich auf die Straße zum Marktplatz ein. Als ich eine Gruppe von Menschen nach meinem Vetter ansprach, schüttelten sie den Kopf und verschwanden schnellen Schrittes. Ich schaute mich um und musste feststellen, was das doch für ein befremdlicher Ort war. Die Häuser waren in einem Stil gebaut, der denen von Lehmhäusern ähnelte. Doch sie waren in schwarz und das Dach bestand aus Schilf. Die Sonne wurde förmlich von den Häusern verschlungen. Nicht einmal die Fenster reflektierten das Licht. In der Mitte des Dorfes stand das größte der Häuser. Da die Tür aufstand, entschied ich mich einzutreten. Es war eine Gaststätte. Im Inneren roch es nach feuchtem Moor. Eine Gruppe Einheimischer blickte aus ihrer dunklen Ecke rüber zu mir. Geprägt von meinen vorherigen Erfahrungen ging ich direkt zum Barkeeper. Es war ein bleicher, krank aussehender Mann mit weißen Haarsträhnen, die an seinem Kopf hingen. Er blickte mich mit seinen tiefschwarzen Augen an, als er erkannte, dass ich näher kam. Mit jedem Schritt konnte ich ihn besser sehen und mit jedem Moment, in dem ich ihn besser sehen konnte, wurde es mir unbehaglicher. Sein Lächeln entlockte ihm ein Gebiss wie von einem Hai. Seine Stimme klang unmenschlich. Er hielt sich die rechts Hand an die Kehle und formte mit seinem Mund Laute, die wie die mir bekannte Sprache vorkamen. Nach einer kleinen Unterhaltung winkte er jemanden vom Tisch zu mir, der mich endlich zum Anwesen brachte.
Es war ein Haus, das abseits vom Dorf an einem kleinen See stand. Es war schon in die Jahre gekommen. Der Garten war überwuchert und die Natur hatte sich die Gehwege teilweise schon zurückgeholt. Ich ging zur Tür. Erst als ich davor stand stellte ich mir die Frage, wie ich eigentlich in das Haus gelangen sollte. Ein Schlüssel war dem Brief nicht beigelegt. Zu meiner Überraschung war das Runterdrücken des Griffes ausreichend. Ein modriger Gestank begrüßte mich auch hier. Jedoch war das Innere gepflegter als der Garten. Daher wunderte es mich sehr, wo der Gestank doch herkam. Durch die lange Reise erschöpft suchte ich direkt das Gästezimmer auf.
Mit den ersten Lichtstrahlen des neuen Tages stand ich auf. Ich ging Raum für Raum ab. Jedes Mal überrascht, wie ordentlich das Haus doch ist. Doch besonders hervor stach die Bücherei. Sie umfasste einen ganzen Raum mit fein alphabetisch geordneten Büchern. In der Mitte der Bücherei war in der Decke ein großes ovales Fenster. Es wirkte wie ein Auge, was über die Arbeit meines Vetters wachte, da genau unter diesem vermeintlichen Auge ein großer massiver Eichenholztisch stand. Ein altes Pergament lag im Lichte des Auges. Ich griff mir das Pergament. Dabei hatte ich das Gefühl, dass das Auge sich auf mich fixierte. Beim Anblick der Zeichen brannten meine Augen. Ich verstand es nicht. Wieder und wieder setzte ich an. Versuchte die Wörter auszusprechen. Meine Stimme wurde kratziger. Versagte beinahe. Etwas wie Feuer breitete sich in mir aus. Ich versuchte aufzuhören, doch irgendwas zwang mich weiter zu machen. Die Schmerzen wurden unerträglich. Ich presste die Wörter durch meine zusammengebissenen Zähne. Zu Anfang noch leise. Beim vierten Mal brüllte ich die Sätze mit Blick durchs Auge. Doch ich sah nicht unseren Himmel.
Draußen begann ein Wetterumschwung. Der Wind zog auf. Die Äste peitschten gegen die Fenster. Die Welt draußen wurde ins Triste gezogen. Der Regen fiel wie ein Schleier vom Himmel. Gebannt starrte ich auf die Szenerie. Noch nie vernahm ich einen so schnellen Wetterumbruch. Der Regen kam einem Tanz gleich. Im Rhythmus des Windes schlängelte er sich wie eine Schlange zum Boden. In den Wolken zuckten stumme Blitze. Sie malten ein Zeichen in den Himmel. Etwas, was ich noch nie gesehen habe. Ich spürte kalten Schweiß auf meiner Stirn, während ich zweifelte, ob ich es wirklich sah, wenn ich es nicht beschreiben konnte. Inmitten des schwarzen Sturms öffnete sich ein Tunnel. Ich konnte weite Sterne klar und deutlich sehen. Ich fasste mir mit einer Hand an den Kopf und rieb mir die Schläfen, während ich weiter alles beobachtete.
Plötzlich kam aus dem Loch ein gleißendes Licht. Ich wollte meine Augen zusammenkneifen, doch mein Körper gestattete es mir nicht. Mit brennenden Schmerzen sah ich hinein. Im Licht war ein kleiner schwarzer Punkt, der, wie ich zu spät feststellte, sich mir näherte. Ein Wesen in einer Form, die einem Trapez nahe kam, blieb vor der Scheibe stehen. In seinen Augen, die aussahen wie Galaxien, sah ich etwas, was mir fast den Verstand raubte. Das Glas wurde wellig und gab mir einen Blick auf eine Zeitepoche der Erde frei, die mir gänzlich fremd war. Schweiß lief mein Gesicht runter. Ich hechelte wie ein Hund, bis es schlagartig dunkel um mich wurde.
Als ich aufwachte, war es draußen hell. Ich rannte zum Ort. Auf Knien ging ich den Platz ab. Nichts ließ darauf schließen, dass gestern etwas passiert war. Für einen kurzen Augenblick hielt ich inne. Ich war im Bett aufgewacht, aber meinte, dass ich alles vom Fenster aus dem Arbeitsraum gesehen hatte.