Veröffentlicht: 17.07.2023. Rubrik: Persönliches
Pustekuchen
Da ist sie vor gut vier Jahren umgezogen, im Spätherbst war es. In eine schicke, kleine Wohnung mit Fensterfront und einem verheißungsvollen Balkon davor. Ans nicht mehr so ferne Alter hatte sie gedacht, dass sie ihr neues Zuhause auch dann mühelos würde bewältigen können, anders als die alte Bude, in der sie bislang gelebt hatte. Der Umzug war ihr leichtgefallen. In ihrer verschachtelten alten Bleibe hatten einige Balken gewackelt, der Fellboden unter den Dielenbrettern nachgegeben, die hölzernen Treppenstufen laut bei jedem Hinunterlaufen gekracht. Von den Mäusen, die sich hinter der Fußbodenleiste eingenistet hatten, ganz zu schweigen. Eine Maus hatte sich nächtens sogar erdreistet, über den Küchentisch zu laufen, den Spuren nach zu urteilen; wie hatte sie sich gegraust. Froh war sie, das Haus verlassen, unnützen Krimskrams weggeworfen und den Umzug gemeistert zu haben.
Nun wollte sie ihren Balkon genießen. Es handelte sich um keinen riesengroßen Balkon, aber einen geräumigen, mit Luft nach oben. Den Wolken wollte sie zuschauen, den Vögeln, wie sie sich im Wind spielten, den Kindern, die unten an einem Fußgängerweg Versteck spielten. Die letzte Herbstsonne, sowie den beginnenden Frühling genoss sie dort. Freilich musste erst noch die große, grobe Biertischgarnitur weggeräumt werden. Als der Arbeiter kam, den sie herbestellt hatte, baute er zugleich den dicken Bretterbelag ab, der unten morsch und faulig war. Danach versetzte er sie, ließ sich nicht mehr blicken. Sie wartete ab, erstand nur notdürftig ein paar Kübelpflanzen, denn Fenster, Fassade und Balkonbeläge sollten sowieso bald erneuert werden, hieß es. Dann gab es in der Hausgemeinschaft jedoch Schwierigkeiten mit der Finanzierung, die Renovierung verzögerte sich um ein Jahr. Der Balkon blieb also kahl.
Im Jahr darauf herrschte Corona, und sie traute sich nicht, so viele Arbeiter auf einmal ohne Mundschutz und ohne Maske hereinzulassen. Was sinnvoll war, doch sie war die einzige. Draußen wurde ein Gerüst aufgestellt, Sackleinen herabgelassen, sie verbrachte die Sommerhitze im Dämmerlicht hinter Staub und Bauplanen. Ihre Sehnsucht nach blühenden Balkonkästen und dem Spalier an der Betonwand zum Nachbarn wurde unbeschreiblich.
Allmählich wäre sie schon froh gewesen, einfach nur Luft und Sonnenschein auf ihrer Empore genießen zu können. Aber nein, ab April sperrte ihre Balkontüre. Eine Reparatur lohnte sich nicht mehr vor dem geplanten, noch ausstehenden Fensteraustausch, sie saß in der Sommerhitze drinnen. Als ihr Fenster schließlich repariert und alles abgeschlossen war, war der Winter eingekehrt. Pustekuchen war es bis jetzt mit ihrem Traum vom paradiesischen Balkonien.
[geschrieben im März 2022, während des Corona-Stillstands]