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8xhab ich gern gelesen
geschrieben von Ernst Paul.
Veröffentlicht: 16.07.2023. Rubrik: Menschliches


Abschied von Sophie

Seinen rechten Arm hat er an die Fensterscheibe gelehnt und den Kopf darauf gestützt. Er beobachtet die funkelnden Lichter der vorbeifahrenden Autos. Das neblig trübe Wetter und der beginnende leichte Nieselregen nehmen ihm die Sicht. Die Elbe erkennt er nur schwach. In der Ferne hört er das gleichmäßige Tuckern eines Schubverbandes.
In der Stube spendet nur die kleine Stehlampe mageres Licht. Sophie ruht. Helligkeit verträgt sie nicht. Sie liegt mit geschlossenen Augen auf der Couch. Er schaut zu Sophie und merkt, dass ihr fröstelt. Mit einer warmen Wolldecke deckt er Sophie zu, setzt sich zu ihr, streichelt ihre Wange und küsst sie. Unbewusst führt er ihre Hand an seine Wange und trocknet seine Tränen. Er schaut zu ihr. Sophie hat die Augen geschlossen und lächelt. Auch ohne Haare ist Sophie eine sehr schöne Frau; für ihn die Schönste. Ihren Kopf hat Sophie mit einem bunten Kopftuch bedeckt und seitlich mit einem Knoten gebunden. Behutsam steht er auf und geht einige Schritte hin und her. Dann verlässt er die Stube.

Im Küchenbüfett, so weiß er, liegt noch eine Schachtel Zigaretten. Seit Sophie austherapiert ist, raucht er nicht mehr. Doch jetzt, so meint er, brauche er eine Zigarette.
Dieses Küchenbüfett hat Sophie selbst bemalt. Nach dem Ableben ihrer Oma rettete Sophie dieses Büfett vor dem Sperrmüll. Sie stellten es in den Schuppen von Sophies Eltern und begannen es nach Sophies Vorstellungen zu gestalten. Er musste zuerst die groben Arbeiten erledigen. Die Demontage der Scharniere und Beschläge ging ihm mühelos von der Hand, das Entfernen des alten Lacks jedoch war eine derb schmutzige Tätigkeit. Auch mit einem Schwingschleifer war es mühevoll, diese alte Lasur zu entfernen. Danach gestaltete Sophie dieses Büfett selbst. Sie nahm den Feinschliff vor. Mit einem Holzklotz und sehr feinem Schleifpapier entfernte sie alle Unebenheiten. Die kleinsten Staubpartikel wischte sie mit einem feuchten Tuch vom Büfett. Danach bemalte sie dieses Büfett. Sophie wollte es in ihrem Blau bemalen. Sie nahm deshalb Carolina Blau und Baby Blue und mischte diese Farben in einem bestimmten Verhältnis. Dann trug sie diese Mischung fein auf. Es war der Farbton, den sie sich wünschte. Sie nannte ihn das Morgen blau der Elbe.
Die Türen des Büfetts bemalte Sophie mit Blüten der Amaryllis. Bevor sie damit begann, ging ihr Vater in den Garten und schnitt die Blüte einer Amaryllis ab, brachte sie in den Schuppen und stellte sie in eine Vase. Sophie malte dann genau diese Blüte ab. Ihr Vater stand abseits und sah seiner Tochter zu. Er war stolz auf Sophie, stolz auf ihre Stärke, die sie trotz ihrer Krankheit zeigte. Für das Abmalen der Blüten nahm sich Sophie Zeit. Vom Pastellrosa bis zum Tango rot gibt es alle roten Farbtöne in diesen Blüten zu sehen. Sie mischte deshalb die Farben für die Blüten selbst. Jede Blüte auf diesem Büfett ist ein Unikat, eine Blüte aus dem Garten ihrer Eltern. In jeder Blüte spürt der Betrachter die Liebe, mit der Sophie diese Blüten gemalt hat. Als Sophie ihre Arbeit beendet hatte, brauchte er nur noch die neuen Scharniere und Beschläge anzuschrauben.

Jetzt steht er vor diesem Büfett und schaut auf diese Türen. Er mag sich die Zukunft ohne Sophie nicht vorstellen. Er öffnet die linke obere Tür, nimmt die Zigarettenschachtel heraus, entnimmt ihr eine Zigarette und legt die Schachtel zurück. Dann nimmt er das Feuerzeug in die Hand und geht zurück in die Stube.
Er stellt sich vor das Fenster und sieht den vorbeifahrenden Autos auf der Straße zu. Er öffnet das Fenster. Ein leichter, kühler Luftzug dringt in das Zimmer. Der Straßenlärm ist zu hören, auch das entfernte gleichmäßige Tuckern des Schubverbandes. Besorgt schaut er zu Sophie. Sie hat die Augen geöffnet und lächelt. Seit längerem fällt ihr das Sprechen schwer. Sie spricht meist mit den Augen. Ihr Blick sagt ihm, dass er nicht rauchen soll. Er legt die Zigarette beiseite. Mit ihren Augen weist Sophie auf das Buchregal, rechts neben dem Fenster. Er lässt das Fenster geöffnet, geht zum Regal und entnimmt ein Buch.

Früher, wenn Sophie müde von der Arbeit nach Hause kam und ihre Hausarbeit erledigt hatte, setzte sie sich zu ihm auf die Couch. Sie legte dann ihren Kopf in seinen Schoß und ruhte. Oft wünschte sie sich, dass er ihr ein Gedicht vortrug. Ob von Hesse oder Rilke, war ihr egal. Sie mochte beide Dichter. Mit Gedichten hatte er es nicht so. Obwohl ihm das Rezitieren nicht lag, erfüllte er ihr immer diesen Wunsch. Sie liebte es, wenn dieser große starke Mann ihr Gedichte vorlas, während sie in seinem Schoß lag und seine Unbeholfenheit genoss. Sie lächelte dabei und spürte seine Liebe. Er trug die Gedichte mit seiner sonoren Stimme immer sehr langsam und monoton, ganz ohne Betonung vor. Gleichmäßig wie das Tuckern eines Schubverbandes auf der Elbe.

Er setzt sich zu ihr und schlägt das Buch auf, schaut nicht auf die Seite, welche er aufgeschlagen hat, sondern sieht Sophie in die Augen. Sophie lächelt. Er weiß, welches Gedicht sie sich wünscht. Und ohne einen Blick in das Buch zu werfen, beginnt er das Gedicht „Stufen“‘ von Hermann Hesse vorzutragen. Er kennt dieses Gedicht auswendig. Dieses Gedicht ist eines der Lieblingsgedichte von Sophie. Wie oft er es ihr an den Abenden auf der Couch vorgetragen hat, weiß er nicht. Er beginnt mit seiner sonoren Stimme Sophies Bitte zu erfüllen:

„So wie jede Blüte welkt und jede Jugend
dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern…

Er spricht sehr bedächtig und beobachtet Sophie. Sie lächelt, während er ruhig spricht. Sie lächelt ihm zu, als wolle sie ihm sagen: Danke für alles, danke für deine Liebe. Dann schließt sie ihre Augen. Er spricht weiter im gleichmäßigen Rhythmus, ohne Hebung und ohne Senkung im Text. Er hört das Tuckern des Schubverbandes und passt sich diesem Rhythmus an.

… Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
uns neuen Räumen jung entgegen senden,
des Lebens Ruf an uns wird niemals enden…
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!“

Er legt das Buch beiseite und nimmt Sophies Hand. Sie ist schlaff und reglos. Er schaut ihr ins Gesicht. Sophie hat die Augen geschlossen und atmet nicht mehr. Er beugt sich zu ihr und küsst sie auf den Mund. Dann nimmt er ihre Hand, führt sie zu seinem Gesicht und trocknet seine Tränen. Er steht auf und geht zum Fenster, öffnet es weit und stiert, nichts wahrnehmend, in den Abend.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von ehemaliges Mitglied am 16.07.2023:
Kommentar gern gelesen.
Alle Achtung, Ernst Paul!

Eine Geschichte, als wäre ich dabei gewesen, als wäre ich "ER".

LG Jüro




geschrieben von Christelle am 16.07.2023:
Kommentar gern gelesen.
Wie berührend! Auch die Schilderung, wie Sophie das alte Küchenbüffet feingeschliffen und mit so sorgfältig gemischten Farben bemalt hat. Ein gemeinsames Projekt der beiden.
Dazu noch Hermann Hesse mit seinen Lebensstufen.

Die ganze Geschichte hat mich in ihren Bann gezogen.




geschrieben von Ernst Paul am 17.07.2023:

@Jürgen, @Christelle,
es freut mich, dass euch meine Geschichte gefallen hat. Vielen Dank für eure Bewertung.




geschrieben von Smiley face am 17.07.2023:
Kommentar gern gelesen.
Was für eine berührende Geschichte! Man muss weinen!😭😭😭




geschrieben von Gari Helwer am 19.07.2023:
Kommentar gern gelesen.
Traurig, Ernst, aber wunderschön! Das Gedicht von Hesse liebe ich auch - besonders die letzte Zeile... Eine berührende Geschichte! LG

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