Veröffentlicht: 22.01.2023. Rubrik: Menschliches
Die Emanzipation eines Mannes
Carmen schien auf meinen Anruf gewartet zu haben. Sie nahm den Telefonhörer ab und meldete sich. Ich sagte ihr sehr deutlich und bestimmt, dass ich unsere Beziehung beende. Heute werde ich zu ihr kommen, um meine Sachen abzuholen. Carmen holt tief Luft und ich merke, dass sie auf diese Worte gewartet hat.
„Axel, überlege es Dir bitte noch einmal. Hast Du alles vergessen, was zwischen uns war? Du kannst nicht unsere gemeinsame Zeit wegwerfen. Ich bin doch nicht irgendwer, mit dem Du so umgehen kannst“. Auch wäre sie heute Nachmittag nicht zu Hause und sie wolle doch wenigstens, wenn schon Schluss sei, mich noch einmal sehen; mit mir ein paar Worte wechseln; mir in die Augen sehen. Sie könne mich nicht so ohne weiteres gehen lassen; sie brauche mich doch. Ihre Gefühle habe sie wieder unter Kontrolle. Sie wolle sich auch helfen lassen. Ich kenne Carmen gut. Die Traurigkeit und Niedergeschlagenheit in ihrer Stimme waren echt. Doch durfte ich jetzt nicht nachgeben.
Die letzten Monate unserer Beziehung waren sehr wechselhaft: liebevoll und schön, voller Hingabe und Leidenschaft, aber auch grauenhaft und bis zur Unerträglichkeit mit Hass erfüllt. Carmens Stimmung änderte sich fortwährend und ich wusste nicht, was in ihr vor sich ging. Ich versuchte sie zu verstehen, doch es gelang mir nicht.
Es gab Tage, da war Carmen mit ihren Gedanken weit weg; in der Zukunft oder auch in der Vergangenheit; völlig abwesend. Versuchte ich ihre Gedankengänge zu unterbrechen, bekam ich nur mürrische, teilweise aggressive Antworten. Ich wurde beschimpft, mit unschönen, mich verletzenden Worten. Dass es mir jetzt gut geht, verdanke ich nur ihr, sagte sie des Öfteren.
Ich verdanke ihr, dass es mir wieder gut geht. Nach dem Scheitern meiner Ehe gab mir Carmen den Rückhalt, den ich brauchte, um aus meinem Tief zu kommen. Das Scheitern meiner Ehe hatte ich nicht verkraftet. Ständige Niedergeschlagenheit und Alkoholexzesse wechselten sich ab. Ich war am Boden zerstört und sah keinen Sinn mehr in meinem Leben. Mit Carmen jedoch lernte ich wieder, das Leben und die Liebe zu genießen. Auch Carmen blühte wieder auf. Sie wurde wieder zu der Schönheit, die sie einst war. Lange Zeit hatte sie gebraucht, den frühen, plötzlichen Tod ihres Mannes zu verarbeiten. Nun fühlte sie sich wieder imstande, eine Beziehung zu führen. Ich war der Erste, in dem sie sich wieder verliebte. Und ich spürte ihre Liebe, täglich. Doch je mehr mein Alltag Normalität annahm, je mehr ich wieder Lust am Leben hatte, je befreiter ich wurde, umso mehr entfernte sich Carmen. Sie ließ mich ihren Unmut und ihre Unzufriedenheit jetzt sehr oft bis zur Unerträglichkeit spüren. Ich schwieg dann, lenkte mich mit anderen Dingen ab oder ging an die frische Luft und rauchte. Wurde mir ihr Verhalten zu viel, nahm ich meine Tasche, setzte mich ins Auto und fuhr nach Hause.
Ich war froh, dass ich meine Wohnung nach unserem Kennenlernen nicht aufgegeben hatte. Meine noch nicht verarbeiteten Erfahrungen im Zusammenleben mit einer Frau waren mir Warnung genug. Als es in der Beziehung mit Carmen zu kriseln begann, zog ich mich oft in meine Wohnung zurück. Diese Wohnung gab mir Rückhalt und Sicherheit und stärkte mein Selbstbewusstsein. Hier konnte ich mich so bewegen und betun, wie ich es für richtig hielt. Ich konnte mich einfach in den Sessel setzen, eine CD einlegen und die Musik hören, die ich gern höre; die Beine hochlegen, ein Glas Bier trinken und die vergangenen Tage Revue passieren lassen. Ich konnte mir ein Buch in die Hand nehmen und mich in den Text hineinvertiefen, ohne dass ich abgelenkt oder gar gestört wurde. Im Fernsehen sah ich mir das Programm an, welches mir gefiel. Wie stünde ich jetzt ohne Wohnung da? Carmen würde meine Hilfslosigkeit gnadenlos ausnutzen, mir ihre Macht und ihre Stärke zeigen und Unterwürfigkeit von mir einfordern. Unterwürfigkeit, das wollte ich nie mehr. Daran war meine Ehe zerbrochen. Vielleicht brauchte Carmen meine Unterwürfigkeit, meine Hilfslosigkeit? Vielleicht war das der Grund ihrer Unzufriedenheit? Als sie merkte, dass ich auch ohne ihre Hilfe mein Leben gestalten konnte, fühlte sie sich ausgenutzt.
Den heutigen Nachmittag zum Abholen meiner Sachen habe ich bewusst gewählt. Carmen arbeitet jeden Mittwochnachmittag in der Landeshauptstadt. Sie vertritt dort ihre Firma bei Werbeveranstaltungen. Diese Werbeveranstaltungen finden immer in der Nähe des Hauptbahnhofes statt. Es ist für sie das Einfachste, Sicherste und Schnellste, mit dem Zug zu fahren. Ich habe so den ganzen Nachmittag Zeit, in Ruhe meine Sachen zu packen.
Ich sage Carmen nochmals, dass der Kleintransporter nur heute am Nachmittag zu haben war und dass ich morgen beruflich verhindert bin, um zu ihr zu kommen. Urlaub habe ich auch nur für heute erhalten. Ich kann also nur heute, heute am Nachmittag, meine Sachen abholen. Und um meine Sachen zu packen und in den Transporter zu laden, brauche ich keine fremde Hilfe. Das kann ich sehr gut allein. Ich verabschiede mich und lege den Telefonhörer auf.
Als ich im Begriff bin, zu gehen, klingelt das Telefon erneut. Carmen ist wieder in der Leitung und beginnt mich zu beschimpfen. Sie lässt ihrer Enttäuschung freien Lauf. Ich bin froh, nicht in ihrer Nähe zu sein. In ihre Worttiraden hinein sage ich nochmals, ruhig und gelassen, dass ich nur nachmittags kommen kann. Wenn ich meine Sachen gepackt habe, werde ich den Wohnungsschlüssel in den Briefkasten legen. Mit sehr sanfter Stimme fleht Carmen: „Überlege Dir doch noch mal alles, Axel. Erinnere Dich, wie schön es zwischen uns war. Ich werde alles tun, dass es wieder so wird, wie es war. Und es wird bestimmt noch schöner. Wir haben doch die schwere Zeit so gut überstanden. Wir sind doch stark genug, um alle Schwierigkeiten im Leben gemeinsam zu bestehen.“
Sie spricht und spricht und ich komme nicht zu Wort. Ich versuche mich nicht an diese schöne Zeit zu erinnern. Erinnere ich mich, gebe ich nach und bleibe ich bei ihr. Ich liebe sie doch.
Sie überhört, als ich sage, dass ich jetzt gehe, um den Kleintransporter abzuholen. Sie spricht weiter und glaubt mich von meinem Entschluss abhalten zu können. Sie kennt meine Schwächen genau und weiß, dass ich immer nachgegeben habe, wenn sie mich sehnlichst um etwas bat. Ich erfüllte auch immer ihre Bitten. Doch jetzt muss ich mich von ihr trennen, weil ich leben will. Weil ich jetzt mein Leben selbst bestimmen muss. Ich habe nur dieses Leben. Es ist eine harte Entscheidung für mich. Ich muss Egoist sein. Jeder Mensch hat Ecken und Kanten, aber die hat auch jeder Diamant. Die bisherigen Schwierigkeiten in meinem Leben habe ich immer dann erfahren müssen, wenn ich nicht egoistisch war. Es war nicht richtig von mir, alles hinzunehmen. Meine Gutmütigkeit wurde oft mit Schwäche verwechselt und ausgenutzt. Im Leben muss man auch Grenzen ziehen. Nicht um anderen weh zu tun, sondern um sich vor Verletzungen zu schützen.
Die angestaute Luft lasse ich aus meinen Lungen und atme tief durch. Mir ist flau im Magen und nicht wohl in meiner Haut. Doch ich muss jetzt Stärke zeigen.
Ich verschließe meine Wohnungstür und fahre zum Autohaus.
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